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14. Juni 1924

Das Hohe Venn allein ist die Reise wert. Am schönsten muß es sein, wenn man es sich redlich und handwerksburschenmäßig mit aufgeschnalltem Rucksack erwandert, wie weiland Franz Seimetz, zur Zeit, als durch den Hertogenwald noch die hundertjährigen Tannenriesen die Straße entlang Wache standen. Im Krieg haben die Deutschen dort, wie in allen Wäldern in Feindesland, mordsmäßig gehaust, und wenn man auf sie die gewöhnlichen Waldfreveltarife anwenden wollte, hätten sie noch viel mehr Reparationen zu bezahlen, als sie schon ohnehin nicht bezahlen.

Weiße Fleckchen schimmern von weitem zwischen Erika und Blaubeerengestrüpp. Es sind nicht eigentliche Blüten, die so leuchten, es sind auf hohen, dünnen Stengeln erbsendicke Samenköpfchen mit zolllangen, schneeweißen Seidenperücken. Linaigrettes heißen sie in der Gegend, Reiherspitzen aus weißem Lein also, und es ist von ihnen rührend freundlich, daß sie auf diesen unwirtlichen Höhen wenigstens aus der Entfernung sommerliche Blütenpracht vortäuschen wollen.

Hier sind wir im unheimlichen Bezirk der mörderischen Schneestürme, und wie die Marterln im Gebirg stehen überall die Kreuze, die vom Tode eines im Schnee verirrten Wandrers Kunde geben. Und hier steht am Weg die Baraque Michel; aus dem biedern Michel machen Unkundige gern einen Heiligen, Saint Michel, aber der Name ist gut weltlichen Ursprungs. Um 1800 herum hatte sich ein Schneider, namens Michel Schmit, im Schnee verlaufen. In seiner Herzensangst gelobte er, an der gefährlichen Stelle eine Schutzhütte zu erbauen, die mit Glocken- und Lichtsignalen den verschlagenen Wandrer wieder auf den richtigen Weg bringen sollte.

Michel Schmit fand glücklich nachhaus und hat dann sein Versprechen gehalten. Kurze Zeit darnach wurde ein gewisser Fischbach durch die Baraque Michel vom Tod im Schnee gerettet und dessen Sohn ließ unweit der Baraque eine Kapelle erbauen, von der aus fortan die Glocken- und Lichtsignale gegeben wurden.

Für uns Luxemburger bietet die Baraque Michel eine besondere Eigentümlichkeit, insofern in ihrem Fenster ein Schild mit folgender Aufschrift hängt: On vend ici: Vins de la Moselle Luxembourgeoise, de la maison J.-P. Hartmann, Ettelbrück (Luxembourg).

Wenn Sie also einmal im Winter nach längerer Irrfahrt im 2-3 Meter hohen Schnee bis zur Baraque Michel durchgefunden haben, so bietet Ihnen gleich die Heimat einen herzstärkenden Trunk.

Noch eine Sehenswürdigkeit dieser Gegend ist es wert, daß man sie aufsucht, und hat ihresgleichen nicht weit und breit: die Talsperre der Gileppe, zu der man von Eupen aus durch das Vesdre-Tal gelangt, die Haupteinfallstraße der deutschen Heerscharen im August 1914.

Kein Bild vermag auch nur annähernd einen Be- griff von der imposanten Wirkung dieser Anlage zu geben. Man kommt durch den Wald herauf die gepflegte Straße an dem alten Felsenbett der Gileppe entlang und sieht durch Laubgitter den Löwen, der mitten auf dem Staudamm emporragt. Er ist so gewaltig, daß der erste Eindruck der eines himmelan getürmten Felsens ist. Dann wird einem klar, daß man es mit Menschenwerk zu tun hat. Und dann gelangt man in den Bereich der vielfältigen Bauten, die im Zusammenhang mit dem eigentlichen Damm errichtet sind und deren Verhältnisse durchaus überlebensgroß wirken, wie der Löwe, dem Gras und Gesträuch aus der Granithaut wachsen. Du gehst über die Dammkrone und siehst auf der einen Seite abgrundtief in ein breites Wiesental, in dem sich Ausflügler um ihr Mitgebrachtes gelagert haben, und siehst auf der andern Seite dies selbe Tal fast bis an den Rand der Staumauer aufgefüllt durch einen großen, grünen See, der in seiner ungesügen, ruhigen Last eine ungeheure Schwerkraft aufspeichert. Die Menschlein dort unten und hier oben auf dem Damm bewegen sich wie Pygmäen vor dem sichern Käfig eines lauernden Löwen, und das ist die tiefe Symbolik des Riesensteingebildes, das dort über See und Tal emporsteigt.

Seht Ihr, wir können in Belgien noch allerhand lernen. Während man mir den Werdegang dieses Riesenwerkes erzählte, das aus dem fruchtbaren Gemeinsinn der Stadt Verviers erwachsen ist, dachte ich beispielsweise an die Wiltzer Wasserleitung.

Dagegen stößt einem drüben manches Andere auf, das weniger nachahmenswert ist. So zum Beispiel, daß der belgische Staat auf seinen Eisenbahnen heute noch Züge verkehren läßt ohne die Einrichtungen, die in erster Linie der Bequemlichkeit und Gesundheit dienen und die nicht nur in Bad Mondorf als Notwendigkeit empfunden werden.

Hoffentlich behalten wir uns bei dem bevorstehenden Eisenbahnabkommen vor, daß diese belgischen Wagen nicht auf unsern Strecken verkehren dürfen.

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