Original

11. Juli 1924

Der Verein „Landwuel“ gibt die erste Nummer seines Organs heraus.

m. J. Klein sagt in einem Leitartikel, was der Verein bezweckt. Er sagt es eindringlich und überzeugend. Überzeugend für uns die in gewissem Betracht die Dinge von oben sehen. Ob auch überzeugend für die andern, die der Scholle erhalten werden sollen?

Es ist zu befürchten, daß diese allzu leicht zu der Frage sich veronlaßt sehen: Ihr, die Ihr uns die Liebe zur Scholle und das Verderbnis der Entwurzelung predigt, wer seid Ihr denn? Was wißt Ihr von der Scholle und von uns, die darauf leben und lieben? Was wißt Ihr von unsern Mühen und Plagen und Sorgen? Und wenn Ihr darum wißt, warum seid Ihr denn, wo Ihr heute seid? Warum seid denn Ihr nicht bei der Schlle geblieben? Gleicht Ihr nicht ein wenig denen, die in der Kutsche sitzen und den Fußgängern, die in Staub und Schweiß ihrer Weges ziehen, die Herrlichkeiten des Wanderns zupreisen, damit sie nicht ebenfalls in die Kutsche steigen wollen und Eure Bequemlichkeit gefährden?

Diese Fragen liegen so nahe, daß sie sich der ganzen Bewegung wie Knüppel vor die Räder legen.

Wie? Wenn das Landleben so herrlich ist, warum hellen sich die Städter denn so konsequent von ihm ? Drei Wochen sich in ein Dorfwirtshaus setzen, ändliche Kost essen und spazieren gehen, bis man sie verdant hat, oder den Sommer über mit allem Komfort in einer Villa auf dem Dorf leben, das tut es nicht, damit überzeugt man die Dörfler nicht von den Vorzügen des Landlebens, sondern steigert in ihnen die Sehnsucht nach dem Brennpunkt Stadt, wo die Menschen so viel Geld verdienen, daß sie Wochen lang in die Sommerfrische gehen und sich eine Villa kaufen können.

Wenn aber einer es fertig bringt, sich Wochen und Monate lang mit den Lebensbedingungen zu begnügen, die für das Dorf den Durchschnitt bilden, so zwar, daß sich die Leute draußen wundern, wie der Mann auf alle Herrlichkeiten der Stadt verzichtet und lieber mit ihnen nach Feierabend auf einem Baumstamm vor dem Wirtshaus eine Flasche Bier trinkt, als daß er im Majestic die hübschen Mädchen in kurzen Röcken tanzen sieht, so dämmert vielleicht bei ihnen allmählich eine Ahnung, daß sie es am Ende gar nicht so schlecht, und daß es die Städter gar nicht so gut haben. Hole der Henker die ganze Bande, die da hinaus zieht - newen erem e Spetzekranz, ennen erem de Läpp net ganz - und mit ihrem Geschwätz und Geprotze den ländlichen Bekannten beibringt, in der Stadt sei ewiger Sonntag!

Die Landflucht ist im sozialen Körper eine Krankheit, Blutleere an der einen, Kongestion an der andern Stelle. Krankheiten werden in der Regel nicht durch Gesundbeten geheilt. Sie werden in ihren Ursachen und Wirkungen wissenschaftlich erforscht und nach dem Ergebnis der Forschung richten sich die Heilmittel. Von einer wissenschaftlichen Erforschung der Landflucht sind wir nach sehr weit entfernt. Es berührt wahltuend, daß im ersten Heft der „Landwuel“ Zeitschrift Herr Dr. R. M. Stand an die Denkmalpflege mit den Methoden der Wissenschaft herangeht. Ähnlich wäre die Frage der Landflucht zu behandeln. Es wäre festzustellen, was in einer möglichst großen Anzahl von Fällen sich als Ursache und Wirkung wiederholt. Der Vazillus der Landflucht wäre zu entdecken. Würde festgestellt, daß sich in tausend Fällen von Landflucht als Veranlassung dazu immer dieselben Verhältnisse ergeben, so wüßte man, daß dem Übel nur durch Behebung dieser Verhältnisse abzuhelfen wäre. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich radikale Unheilbarkeit herausstellen würde, und dann müßte man eben suchen, neben dem Übel hinzuleben, wie die Winzer in Frankreich gelernt haben, mit der Reblaus zu existieren, da sie sie nicht ausrotten konnten.

Eines ist sicher: Die meisten Landfamilien, die die große Umsattlung vollziehen, tun es erstens, weil auf dem Dorf jeder auf seiner Scholle festsitzt und die Ausdehnungsmöglichkeiten fast ausgeschlossen sind, und zweitens, weil sie für ihre Kinder ein Tor in die Zukunft brechen wollen.

Nun hat diese Abwanderung aber wieder das Gute, daß die Zurückbleibenden Ellenbogenfreiheit gewinnen. Sie ist neben dem Zerfall der alten Bauerngüter, auf denen sich die Rasse überlebt hat und für die Stadt reif geworden ist, die einzige Möglichkeit, daß die Bodenständigen zu größerem und Wohlstand gelangen.

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KatalognummerBW-AK-012-2703