Original

23. Juli 1924

Unter den Krebsen in der Gegend von Steinsel und Müllendorf herrscht große Aufregung und Entrüstung wegen niederträchtiger Verräterei eines der Ihrigen.

Über den Zusammenhang war Folgendes in Erfahrung zu bringen.

Seit geraumer Zeit war ein Solokrebs, der in seinen Kreisen hohes Ansehen genoß, spurles verschwunden. Es ging erst die Rede von einer Entführung nach dem Vorbild des Falls Matteotti, aber da sich der Verschwundene nie um Politik gekümmert hatte und in weitem Umkreis nur Freunde besaß, so wurde schließlich diese Vermutung fallen gelassen und allgemein als ziemlich bestimmt angenommen, Onkel Scherenzwack - denn so hieß er - sei ausgewandert, zumal die Verunreinigung des Wassers durch die Dommeldinger Hütte sich immer lästiger bemerkbar machte. Er hatte tatsächlich gesprächsweise erwähnt, daß es weiter nördlich, die Alzette hinunter und die Sauer hinauf sich viel schöner und angenehmer leben ließe.

Auf einmal verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Botschaft, Onkel Scherenzwack sei wieder zuland - wenn man in diesem Fall sagen darf.

Und so war es. Der Heimgekehrte wußte viel Interessantes von seinen Reisen zu erzählen. Er hatte sich, sagte er, ein wenig in der Welt umgetan und ein flottes Leben geführt. Er scharte des östern allerlei Kampore um sich und verleitete sie zu Ausflügen in die Nachbarschaft, nicht selten zu ungewohnten S. Er hielt sie frei, und er wußte immer die Stellen, wo es die leckersten Dinge zu fressen gab, besonders köstliche Stücke halb anrüchiger Kalbsleber, die es sonst im Lauf eines Krebsalters nur sehr selten gab.

„Ich fresse nicht von jeder Leber,“ sagte Onkel Scherenzwack. „Diese dürft Ihr voll Vertrauen und nach Herzenslust genießen, sie stammt von dem bestbekannten Louis aus Bereldingen, der wagenweise in die Stadt an die vornehmste Kundschaft liefert. Ich kenne ihn schon lang, schon von der Zeit her, wo er in Weicherdingen seine Kindheit verlebte, ein Großonkel von mir aus dem Kierelbach, den ich auf meinen Reisen jetzt wiedersah, erinnert sich seiner auch noch sehr deutlich. Wohl bekomm’s.“

Die Schlemmgenossen des Onkels Scherenzwack machten sich gierig über die Leberstücke her und erzählten überall herum, wie herrlich sie lebten. Dabei geschah es ziemlich oft, daß plötzlich das Gewirr von Wasserpflanzen - oder was sie dafür hielten -, auf dem die Leber lag, sich nach oben in Bewegung setzte, aber Onkel Scherenzwack lachte und erklärte, das sei ein Strudel, den die Strömung verursachte. Er ließ sich vergnügt mit in die Höhe ziehen, aber wenn er eine Weile nachher vergnügt wieder herumschwamm - die andern waren und blieben verschwunden.

Das ging so lang, bis durch eine Indiskretion die Verräterei des Herrn Scherenzweck ans Licht kam. Jener Louis, mit dessen Bekanntschaft er so dick tat, hatte ihn vor längerer Zeit gesangen und heimtückischerweise darauf abgerichtet, daß er ihm seine Kameraden auf die Tellergarne lockte, grade wie gezähmte Elesanten ihre wilden Genossen den Jägern ins Gehege treiben. Er ließ sich dabei ruhig mitfangen und wurde von Louis jedesmal wieder ins Wasser gesetzt. Abends steckte ihn Louis in einen Sack mit Brennesseln und nahm ihn mit nachhaus, wo Herr Scherenzwack in Freiheit herumkriechen durfte und mit den herrlichsten Leckerbissen gefüttert wurde. Er kroch seinem Herrn sogar ins Wirtshous nach und spazierte vor ihm auf dem Tisch herum, wenn Louis seine Humpen trank. Aus der ganzen Umgegend kamen Leute, um den dressierten Krebs zu sehen, und ein Sportsman aus Pfaffental hatte Louis dafür siebenhundertfünfzig Franken geboten. Natürlich war er nicht feil.

Dieser Tage mußte Scherenzwack seinen Verrat mit dem Tode büßen. Seine Stammesgenossen rissen ihn in Stücke und schworen sich feierlich zu, keine Kalbsleber mehr anzurühren. Darum geht jetzt der Krebsfang so schlecht.

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  • animal: crab
KatalognummerBW-AK-012-2712