So tiefsinnig hatte ich ihn nie gefehen.
„Nanu, Grimberger, alter Freund, Sie tun ja, als ob sie dem Erdball bis in den Magen sehen wollten.“
Er richtete seinen grübelnden Blick geradeaus in meine Augen.
„So oder ähnlich,“ sagte er beziehungsvoll. „Ich versuche mir selber auf den Grund zu sehen, das ist wichtiger, als bis in die tiefsten Tiefen der Erde sehen.“
„Aber wie kommen Sie zu solchem Einkehrbedürfnis?“
Er war, was ihm nicht oft vorkommt, zum reden aufgelegt und begann, indem er mich beim obersten Rockknopf saßte:
„Sehen Sie, mir gab es seit Jahren zu denken, daß mit der Zeit unsere Sinne an Schärfe abnehmen. Geruch, Gesicht, Gehör, Geschmack, Gefühl - allmählich stumpfen sie sich ab, man merkt es nur, wenn man sich von Zeit zu Zeit vergegenwärtigt, wieviel besser man vor zwanzig Jahren gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt und gefühlt hat.“
„Ja,“ warf ich lachend ein, „das ist doch der natürliche Lauf der Dinge, Herr Grimberger, darüber zerbricht man sich doch nicht den Kopf.“
„Man hat Unrecht. Man sollte sich den Kopf darüber zerbrechen. Denn diese Abnahme des Wahrnehmungsvermögens hat einen tiefen Sinn.“
„Ach wo wird sie denn!“
„Ja, ich weiß, Ihnen ist das ein gemeines Altersphänomen, das man hinnimmt, ohne sich darüber Gedanken zu machen.“
„Was wollen Sie, Herr Grimberger! Ein Auto, das neu ist, federt und läuft und zieht ohne Ruck und Stoß, wird es alt, so sängt es an zu klappern, und zu pusten, weil hier eine Schraube locker, dort ein Rad ausgeleiert ist.“
„Allerdings, wenn Sie sich mit einem Benzinmotor vergleichen wollen!“
„In unserer Körperlichheit sind wir nicht besser dran, als das Auto.“
Er zuckte die Achseln und wollte sich erst zum Gehen wenden, besonn sich aber und griff tiefer:
„Wir haben in dieser allmählichen (Sinnenabstumpfung) eine großartige Absicht der Schöpfung zu erkennen. Sie isoliert uns allmählich von der Umwelt, mauert uns ein, sperrt uns von den äußeren Eindrücken ab, wie ein Student sich absperrt, wenn er sein Examen ochsen will. Sie bewahrt uns vor Ablenkung durch die Außenwelt, damit wir uns einspinnen, den Blick ins Innere richten und mit uns selbst ins Klare kommen. Denn die Außenwelt ist für keinen von uns die Hauptsache. Das Interesse an den Dingen und Menschen um uns, das durch die Schärfe der Sinne geschürt wird, stirbt ab, und um so eifriger interessieren wir uns für uns selbst. Wir wntdecken, daß wir Richter und Angeklagter in einer Person sind. Bisher saß der Richter auf seinem Stuhl und döste vor sich hin, weil der Angeklagte sich nicht stellte und frei herumlief. Auf einmal wird es draußen Nocht und der Angeklagte stellt sich dem Richter, weil es für ihn in der übrigen Welt finster und unwirklich geworden ist.
Der Richter ist er selbst, und er muß sich selber den Eid schwören: die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit, nichts, als die Wahrheit.
Sehen Sie, das ist es: dies endliche ganze Wahrsein gegen sich selbst und damit auch gegen die andern.
Soll man dafür nicht das bißchen Hören, Sehen, Riechen und Fühlen ohne allzu großes Bedauern geben?“