Erst warten die Eltern auf das Kind. Ist das Kind da, so sehnen sie sich nach dem Tag, wo es den ersten Zahn bekommt, dann auf den Tag, wo es allein läuft, dann nach dem Tag, wo der Junge seine ersten Hosen bekommt, wo er in die Schule geht, wo er „zur Kommejon kommt“, wo er in die Tanzstunde geht, einen Beruf ergreift, sich verlobt und heiratet. Und dann fängt mit den Enkelkindern die Reihe von vorn wieder an. Immer wollen sie noch das Nächste erleben, immer schlagen sie wieder höher einen Nagel ein, an dem sie ihre Hoffnung aufhängen.
So ist der Mensch. Zum Abschiednehmen vom Leben gibt es nie „just das rechte Wetter“. Liegt die Welt grau vor ihm, so sagt er, er möchte nur noch ein einziges Mal die Sonne scheinen sehen, scheint die Sonne, so meint er, es sei doch eine Schande, aus einer so schönen Welt fortzumüssen.
Erleben! Dabei sein! Wie oft hörten wir im Krieg alte Leute sagen: Es liegt mir nicht mehr viel am Leben, aber das möchte ich doch noch sehen, wie dieser Krieg ausgeht. Als sie vor beinahe neun Jahren Paul Eyschen begraben, sagte einer seiner besten Bekannten unter Tränen: „Eine Schmach, daß dieser das Ende des Krieges nicht erlebt!“ Und ich kann mir denken, daß die Millionen Soldaten, die im Kriegswahnsinn hingeschlachtet wurden, mit nendem Leid hinübergingen, weil sie nicht wußten, wozu das Opfer ihres Lebens nützte.
Diese Hoffnungssselung wiederholt sich aus dem ganz Großen ins ganz Kleine. Welcher alte Luxemburger erinnert sich nicht aus der Geschichte der Stadt solcher Astknoten, deren Durchgung Jahre und Jahrzehnte erforderte und von denen men sich im Ernst und im Scherz fragte, ob und wann sie wohl erledigt würden. Einer der schönsten war der „Picki“. Die Stadt hatte von der Festung den „Piquet“ als Sackgasse und Schutthausen geerbt und in jeder Gemeinderatssitzung wurde das Schöffenkollegium wegen dieser „unhaltbaren Zustände“ interpelliert. Wären die damaligen und Schöpfen nicht so> behäbige alte Herren gewesen, sie hätten allnächtlich vom Piquet träumen müssen. Bis dort endlich Ordnung geschafft wurde und die Nachbarschaft ausatmete.
Dann kam eine Zeit, wo die Bürger sagten: „Wofern ich es noch erlebe, daß der erste elektrische Trambahnwagen durch die Stadt läuft.“
Der erste läuft nun schon wie lang, und immer noch leben in irgendeinem Teil von Großluxemburg und Umgebung Leute, die den ersten Elektrischen auch vor ihrer Türe erleben möchten. Erst in Neudorf und Hollerich und Bonneweg und Beggen, jetzt in Walferdingen, Steinsel, Merl, Gasperich, Leudelingen, Steinbrücken usw. bis Esch.
Dann die Schwemmkanalisation. Sie ist die Wonne der Miesmacher. Das Tout à l'Egout! Hähä! Wenn Sie das erleben wollen, müssen Sie mit dem lieben Herrgott einen neuen Vertrag schließen!
Aber das alles wurde erlebt oder wird ganz sicher eines Tages erlebt werden.
Dahingegen sehen sich die Anwohner der Straßenzüge, in denen jüngst das elektrische Leitungskabel neu verlegt wurde, vor eine Lage gestellt, deren Ende anscheinend absehbar ist.
Eines Toges erschienen Arbeiter, warfen dicht an den Häusern vorbei einen Graben auf, den die Einwohner von der Türschwelle aus überhopsen mußten und in den sie gelegentlich knietief hineintappten, wenn sie in Gedanken versunken ihr Haus verließen. Dann wurde in den Graben der bronzene Bandwurm bestattet, Erde wurde auf ihn gehäuft, so viel drauf ging, der Rest blieb liegen. Wo ein Pflaster bestanden hatte, liegen die herausgebrochenen Steine auf Haufen den Graben entlang, allen Passanten bei Tag ein Ärgernis und bei Nacht eine Gelegenheit an Halsund Beinbruch.
Das dauert jetzt vier, fünf Wochen. Es wird voraussichtlich ebensoviel Monate dauern, und da nichts so dauerhaft ist, wie ein Provisorium, werden aus den Monaten Jahre und aus den Jahren Jahrzehnte. Und Luxemburg wird wenigstens eine Sehenswürdigkeit haben, deren Ende niemand erleben wird.