Vielleicht entsteht einmal ein Buch „Vorkriegsmenschen“.
Hier ein mögliches Kapitel daraus.
Am ersten regenfreien Tag zogen lufthungrige Stadtmenschen ins Merschertal Tausendmal. hunderttausendmal fahrt Ihr durchs Merschertal mit dem Zug, von Luxemburg gen Eitelbrück und Diekirch, der Ausblick hinauf und herunter ist Euch vertraut, aber nicht ein einziges Mal seid Ihr aus dem Tal seitwärts in die Wälder gestiegen. Dies grüne Wunderland ist Euch fremd. Ihr ahnt nichts von seinen bläulichen Schatten, von dem Gemurmel seiner Wässerlein, von der Märchenpracht seiner Farren, von den Waldhimbeeren und Erd- und Brombeeren und Heidelbeeren, die verschwenderisch an allen Pfaden wachsen und ungenützt verkommen, von dem herrlichen Ausblick in die Riesenwiegen wipfeldurchrauschter Täler und der lastenden Wucht der grauen Felsen, dem verbissenen Kampf ums Dasein der Baumriesen, die sich um die Wette hochtreiben, um aus dem Schatten ans Licht zu kommen, von einsamen Heiligenbildern im Wald, zu denen Menschen ihr verschwiegenes Leid tragen, von sagenumwobenen Felsschlüffen, Grotten, Schluchten, von verliebten Häslein, die dem Wandrer unter den Füßen ausspringen und vor seinem geschleuderten Steck jählings auseinanderstieben, von all dieser Gottespracht der grünen Hallen und geheimnisvollen Dickichte ahnt Ihr nichts.
Die lusthungrigen Stadtleute hatten Glück, denn sie fanden einen Führer, der in diesen Herrlichkeiten von Kindsbeinen auf zuhause ist, und dieser ist es, über den in jenem Buch von den Vorkriegsmenschen ein Kapitel wird stehen müssen. Es ist Herr Wilhelniy aus Rollingen bei Mersch der mit seiner engeren Heimat wie kaum ein andrer verwachsen ist: Er muß es noch erleben, daß sein Werk der Erschließung jenes wunderschönen Waldbestandes zwischen Rollingen und Schoos-Fischbach und in den Tälern der Eisch und Mamer die Früchte trägt, die es zweifellos tragen wird, wenn erst die Naturfreunde erfahren und erleben, was da getan ist. Herr Wilhelmy, der als Abgeordneter und Bürgermeister im Weiteren und Engeren für die Interessen der Allgemeinheit zu wirken Gelegenheit hatte, war nicht nur der trockne Utilitarist, der die Schönheit eines Waldes nur nach Kubikmetern Holz beurteilt, er war auch nicht der unfruchtbare Schwärmer, der mit der Stirn die Wolken berühren will und dabei den Boden unter den Füßen verliert, er war eben die gesunde Mischung von Alltag und Sonntag, aus der die gedeihliche Woche mit Arbeit und Erholung, mit Wirklichkeit und Ideal entsteht. Und wenn er so den Besitz seiner Heimat als trefflicher Familienvater verwaltete, so gab er, als Seele des Verschönerungsvereins auch der Schönheit die Ehre und ließ mit viel Geschmack und wenig Geld die Pfade anlegen, die durch die schönsten Teile und zu den schönsten Punkten jener Wälder hinter den weithin sichtbaren, wildromantischen Rollinger Steinbrüchen führen. Es ist erquickend, von Zeit zu Zeit mit selchen Menschen zu verkehren, die von der Zerfahrenheit der Nachkriegspsyche nicht berührt sind, für die der unvergessene Vannerus zum Beispiel noch immer das Ideal edelsten Menschtums geblieben ist, die tief in alter Gediegenheit wurzeln, für die ihr Haus, ihr Garten, ihr Dorf, die Felder und Wälder weit ringsum von Erinnerungen tönen. Lieber Leser, denke Dir, Du kommst von der unerquicklichen Partie Poker, zu der für viele von uns heute das Leben geworden ist, und jemand führt Dich weit an jeder Gefahr des Geblufstwerdens in den Wald und zeigt Dir einen Baum, wie die Hohe Buche von Rollingen, die Faber in seinen Baumriesen aufzählt. Und er sagt Dir: Diese Buche wird von uns vom Großvater auf Vater und Sohn seit über hundert Jahren gepflegt und geschützt; so weit ich zurückdenke, haben wir ihr regelmäßig Dünger gegeben, sie war schon die Hohe Buche, als mein Vater vor achtzig Jahren in den Gemeinderat gewählt wurde, der Vater des alten Oberförsters Herrn Badu hat sie schon vor siebzig Jahren gehütet, wie seinen Augapfel, und 1918 haben wir das Wort „Freiheitsbaum“ in ihre Rinde geschnitten, Lieber Leser, wenn Du so dastehst, vom Schweigen des Waldes umweht. und siehst diesen Baum und diesen Menschen, die beide wie schöne Sinnbilder in ihre Zeit hereinragen, dann fühlst Du doppelt den Segen der köstlichen Müdigkeit nach vier Stunden Wanderung und setzest Dich in selig gehobener Stimmung an den Tisch, den Frau Brandenburger in Mersch Dir nach alter Überlieferung deftig und mütterlich gerüstet hat. Denn auch sie gehört in ihrer Art zu den guten Vorkriegsmenschen, die in jenem Buch ein Kapitel verdienen.