Die blauen und goldnen Trauben lagen in der geschliffenen Schale, über den Rand hingen lange Schlingen wilden Weines und überblühten den Tisch mit den Farben der Erfüllung.
„Warum heißest du der wilde Wein?“ fragten die Trauben. „Du bist nicht wild. Der wilde Wein, das sind wir, uns entschäumt Wildheit im Gärfaß und im Hirn der Menschen, die den Wein aus unserm Herzblut trinken.“
„Nein!“ sagte herrisch der wilde Wein. „Ihr seid die zahmsten der Zahmen. Denn Ihr seid nur Nützlichkeitsgeschöpfe. Ich aber bin nur der Schönheit wegen da, der wilden Schönheit wegen, die durch die sonnige Wehmut des sinkenden Jahres rote Strähne des Lebens weben will. Ich fliege jauchzend mit brennenden Fittichen durch die Herbstapotheose. Eure Flügel aber werden gestutzt von Anbeginn. Ihr laßt Euch von den Menschen Spitzen und Blätter ausbrechen und ganze Glieder fortschneiden. Vor lauter Inzucht bekommt Ihr Läuse und häßliche Krankheiten, von denen ich nichts weiß, Meltau und Sauerwurm und Peronospora, allerhand Übel, mit deren Namen sich Eure Herren die Zungen verrenken. Das kommt davon, daß Ihr in Reih und Glied eng zusammen in den Bergen steht und Eure Säfte mit allerhand Dung und Fäulnis verderbt. Ihr werdet krank von Geschlecht zu Geschlecht, wie Menschen, die zu viel Fleisch essen. Die Weinberge, wo Ihr wachset, sind Kliniken, Hospitäler, das ganze Jahr hindurch wird darin gedoktert, sie müssen Euch spritzen und schwefeln, wie räudige Hunde.
Seht dagegen mich an! Niemand kümmert sich um mein Wohlergehen, als die Erde und die Sonne, Sol und Terra, deren uneheliches Kind ich bin. Die Menschen nennen das in einer ihrer Sprachen „natürlich“. Ich bin der wilde Wein, weil ich wild wachse. Ich blühe mir ganz allein zum Genuß, aus der Fülle meines Saftes, ich bin gefund, weil ich natürlich bin. Und ich bin schön und wild, weil ich gesund bin.
Bei Euch aber denkt niemand an Schönheit, sondern nur an Geld. Sie pressen Euer Herzblut heraus und füllen es in Fässer und Flaschen und denken nur, wieviel Geld sie für das Faß und die Flasche bekommen werden. Und was Euch Erde und Sonne nicht gaben, weil sie den Sommer über Streit im Haushalt hatten, das flößen die Menschen Euch aus allerhand Retorten ein. Pfui, was müßt Ihr Euch für Sachen gefallen lassen! Ihr seid ein Sklavengeschlecht. Ihr gehabt Euch uns gegenüber wie die reichen Verwandten. Ihr seid ärmer als Bettler!“
Also redete übermütig der wilde Wein. Da griffen Hände nach den Trauben, entpickten ihnen Beere um Beere und schalteten sie ein in den beschleunigten Kreislauf des Stoffes.
„Wohl bekomm’s!“ lachte der wilde Wein. „Dergleichen kann mir nicht passieren. Hoffentlich sehen wir uns morgen nicht wieder!“
Er hatte zu früh triumphiert. Er kam am nächsten Morgen in den Mülleimer und von da auf den Mist.
Er dachte mit tiefem Unwillen erst, dann mit sarkastischer Genugtuung an die Menschen, die sich zu Herren über sein Schicksal machten.
„Gebt acht - dachte er - Euch wird es nicht besser ergehen! Ihr habt Euch eine Unsterblichkeit für Euern Hausgebrauch zurecht gemacht, weil Ihr Eure Persönlichkeit nicht aufgeben wollt. Was Euch recht wäre, wäre uns billig! Gemoppelte! Bei Philippi sehen wir uns wieder!“