Original

5. Oktober 1924

Als vor Jahr und Tag die Aufsehen erregende Mitteilung durch die Zeitschriften und Tagesblätter ging, aus den Werken Bacons sei durch die Entzifferung kryptographischer Einflechtungen des Verfassers der Beweis erbracht, daß nicht Shakespeare, sondern Sir Francis Bacon von Verulam die Shakespeare’schen Dramen geschrieben habe, da hörte man vielfach die Bemerkung, es sei ja doch gleichgültig, wer diese Werke von Ewigkeitswert geschaffen habe, ob Shakespeare oder Bacon, die Hauptsache sei, daß die Welt sie besitze.

Für uns freilich trifft die Bemerkung zu. Uns kann es gleichgütig sein, wer den Kaufmann von Venedig, den Sommernachtstraum, Hamlet, Romeo und Julia, Viel Lärm um nichts, Othello, die Königsdramen usw. usw. geschrieben hat.

Denn der Kosmos von Leidenschaft, der in das Werk Shakespeares eingespannt ist, liegt uns ferner, als der Mars und die Milchstraße und der ganze Sternenhimmel. Wenige von uns haben Gelegenheit, englische Theater zu besuchen, Paris und Brüssel sind kein günstiger Boden für Shakespeare’sche Art, nach deutschen Bühnen haben unsere Landsleute auch keinen besondern Zug, wenn es sich nicht um Operetten, Lustspiele oder den Tünnes handelt - die paar Wagnerschwärmer ausgenommen.

Und auf unsere Stadtbühne hat sich noch kein Shalespeare-Drama verirrt, außer einmal Hamlet, vor langen Jahren, und mit einer Frau in der Titelrolle. Da sind die Beine für einen großen Teil der Zuschauer nicht viel weniger wichtig und ausschlaggebend, als Spiel und Dichtung.

Die Tatsache ist beschämend, aber Tatsache. Von Nacine, Corneille und Molière werden uns löblicherweise alljährlich einige Proben geboten, der klassischen Kunst zu Ehren und den Pennälern zulieb. Aber Shakespeare tritt nie in die Erscheinung.

Soll man sich da nicht Glück dazu wünschen, daß wieder einmal das vielgeschmähte Kino in die Lücke springt? Bei Medinger geht von Freitag ab „Othello, der Mohr von Venedig,“ über die Leinwand.

Freilich, wir bekommen nichts zu hören von der brutalen, von der aufwühlenden Wahrheit des Wortes, das durch die Jahrhunderte von seinem Glanz, seiner Treffsicherheit nichts eingebüßt hat. Dafür aber trägt uns das Kino in die vielfältig schimmernde Welt hinein, in der sich die Schicksale dieser Menschen abwickeln und entscheiden. Die Republik Venedig mit dem Apparat ihrer Politik und Kriegführung, mit der Pracht ihres gesellschaftlichen Lebens wird lebendig, der Regisseur findet Gelegenheit zum Manövrieren mit imposanten Massen, der Mimik ist in den Hauptrollen die Möglichkeit zu überwältigenden Wirkungen geboten. Die Seelendynamik wirkt sich im Guten und Bösen bis zum erschütternden Fortissimo aus, alle diese Gestalten, die in ihrer machtvollen Ausstrahlung Gemeingut der gebildeten Welt aller Zungen sind, aus deren Rede monumentale Aussprüche als geflügelte Worte durch alle Sprachen gehen, werden in sinnlicher Schönheit unserm Auge und unserer Phantasie lebendig und unvergeßlich. Für die Vielen, die nie eine Verkörperung Othello’s, Desdemonas, Jago’s auf der Bühne sahen, werden diese Namen in Zukunft Höhepunkte der Leidenschaft bedeuten, der Eifersucht, der Heimtücke, der reinen, hingebenden, im Tode verklärten Weiblichkeit. Und so wird uns durch das Kino ein Erlebnis- und Schönheitgebiet gewonnen, das uns bisher leider verschlossen war.

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KatalognummerBW-AK-012-2736