Lieber René, eben mußte ich an Dich denken, als ich in der Zeitung wieder einen langen Artikel über den „Kid“ las. Der „Kid“, wie Du weißt, ist der kleine Amerikaner Jackie Coogan, von dem sie so viel Aufhebens machen, weil er schon mit neun Jahren als Stern erster Größe am Kino-Himmel glänzt. Er braucht nicht in die Schule zu gehen, er reist nun schon seit Wochen mit Eltern, Tanten, Kusinen, Reisemarschällen, Reportern, Bio- und Photographen in der Geographie herum, durch den ganzen europäischen Blätterwald rauscht in einem fort sein Name. Das ist Jackie Coogan.
Und Du! Sie haben mir gesagt, Du wolltest nicht einmal in den „Gukuk“ komen und schlügest einen weiten Bogen, wenn ein Zeitungsmensch um die Wege ist. Siehst Du, nun stehst Du also doch in der Zeitung. Ich wollte nämlich eine Geschichte von Dir erzählen. Sie ist schlicht und allerliebst, und ich bin sicher, Du wirst Dich, wenn Du einmal ein alter Herr bist, mit Genuß daran erinnern und sie Deinen Kindeskindern erzählen.
Also Du hast einen guten Kameraden. Jeder Bub in Deinem Alter hat so einen Spezi, mit dem er seine Streiche vollführt. Deiner heißt Leo. Ihr paßt vorzüglich zusammen. Der Leo hat eine Großmutter, eine Goldgrube von Großmutter. Sie ist betulich, wie eine Gluckhenne, gütig, wie’s liebe Brot, sagen die Franzosen, und so klug, wie es je eine alte Frau war. Aber das wißt Ihr beide nicht zu würdigen. Was Euch an der Großmutter merkwürdig ist, das ist ihre Drehorgel. Denn sie hat eine Drehorgel, eine allerliebste kleine Drehorgel, sozusagen ein Drehörgelchen. Sie geht natürlich nicht damit auf die Kirmessen spielen, denn sie ist eine wohlhabende alte Dame, die in einem schönen großen Hause wohnt. Niemand konnte mir sagen, wie die Drehorgel in ihren Besitz gelangt ist. Aber die Drehorgel ist da. Sie steht irgendwo auf dem weitläufigen Speicher hinter einem Lattenverschlag eingeschlossen. Dort sieht man sie, wie ein seltenes Tier hinter seinem Käfiggitter, aber man kann nicht dran.
Ihr aber wäret ums Leben gerne dran gewesen. Eure Hände zuckten nach der Kurbel, mit der man die schmelzenden Harmonien dem Leib der Drehorgel entwinden konnte. Eure Bubenphantasie spann um das Leierkästchen die üppigsten Klangträume. Aber umsonst, der Weg zu diesem Wunder blieb Euch jahraus jahrein verschlossen.
Um so stärker schwoll Euer Verlangen darnach. Da wurde eines Tages an einem anstoßenden Bau das Dach ausgebessert. Sofort hattet Ihr erfaßt, daß durch diese hohle Gasse der Weg zur Erfüllung Eurer Sehnsucht führte. In der Mittagspause Ihr die Leiter hinauf, durch ein Loch im Dach, über Sparren und Balken, Böden und Gitter, bei Gefahr Eures Lebens bis in das Allerheiligste unterm Dach, wo Sie stand, die klingende heilige Bundeslade! Mit vor Aufregung zitternden Händen schafftet Ihr sie in einen heimlichen Winkel, eine lauschige, schummerige Ecke, und da tauchtet Ihr unter in die Orgie von Tönen, die Ihr dem Wunderkasten entlocktet. Etwas Großes, Kostbares, Glanzvolles, Sonn- und Festtägliches war für Euch rauschend lebendig geworden.
Draußen hörten sie auf einmal in den stillen, hellen Werktagmittag hinein die gedämpften Zaubertöne und wußten nicht, wie ihnen geschah. Bis auf einmal die Großmutter erschrocken, aber doch schon mild und vergebungsvoll lächelnd sagte: Die Lausbuben sind über die Drehorgel geraten!
Als Ihr Schritte hörtet, floht Ihr mit Affengeschwindigkeit über Dach und Leiter. Ihr hättet dabei Hals und Bein brechen können, aber was lag daran!
Vielleicht wird einer von Euch noch einmal ein großer Musiker.