Edward Price Bell von den „Chicago Daily News“ hat vor kurzem die leitenden Staatsmänner von Frankreich, England, Deutschland und Italien interviewt: Poincaré, MacDonald, Dr. Marx und Mussolini.
Das interessanteste dieser vier Interviews ist unstreitig das von MacDonald. Es ist besonders interessant für solche, die sich seit Jahren Mühe gegeben haben, das Wesen des Sozialismus zu verstehen. Trotzdem sie die Erfahrung gemacht haben, daß das alte griechische Wort, wonach „alles fließt“, auf nichts so richtig anwendbar ist, wie auf die Lehre des Sozialismus, so werden sie in den Antworten des britischen Premiers auf die Ausfragen des amerikanischen Journalisten doch noch allerlei Überraschendes finden.
Aus langen und angeregten Gesprächen mit führenden Leuten des luxemburger Sozialismus zum Beispiel mußte man - es sind allerdings schon einige Jahre her - den Eindruck gewinnen, daß der Sozialismus der Feind des Individualismus, des Kapitals, des Nationalismus sei, und daß er ohne Bedauern sämtliche vom Kapitalismus geschaffenen Kulturwerte drangäbe, um die Lage des Proletariats zu verbessern, in der Hoffnung daß es aus sich heraus eine neue, bessere Kultur hervorbringen würde. Außerdem mußte man annehmen, daß der überzeugte Sozialist im Klassenbewußtsein des Proletariats eine Grundbedingung für die angestrebte Eroberung der Vormacht im Staat erblickte.
Alles gar nicht! versichert darauf Ramsay MacDonald.
„Der Sozialismus gilt gemeinhin als Gegner des Individualismus,“ sagt Edward Bell.
„Fehlgeschossen, gründlich fehlgeschaffen!“ sagt MacDonald. „Die Sozialisten sind die eifrigsten Verteidiger des Individualismus, wenn anders ein Individualist ein Mann ist, der die Individualität achtet. Was nützt ein Individualismus, der das Individuum nicht von Lebensbedingungen freimacht, die es ihm unmöglich machen, ein Individuum zu sein? Persönliche Freiheit ist Individualismus und sie ist der einzig denkbare Individualismus. Der Sozialismus ist für tatsächliche, nicht fiktive persönliche Freiheit. Persönliche Freiheit der richtigen Art kann nicht anders als durch eine wissenschaftlich aufgebaute soziale Organisation verwirklicht werden, die die menschliche Persönlichkeit vor allem andern in Betracht zieht, nicht aber sie, wie heute, den Besitzern der Finanz- und Industriemaschine versklant.“
Wollte man früher mit annähernd denselben Worten einem sozialistischen Führer beweisen, daß die Gewerkschaftsbewegung letzten Endes individualistische Zwecke verfolgte, so hätte er einem am liebsten den Kopf abgerissen.
Uber das Kapital sagt MacDonald:
„Die Sozialisten wollen das Kapital beibehalten. Sie stehen in der Anerkennung seines Wertes hinter niemand zurück. Wollten sie nichts davon wissen, so ließen sie es ruhig weiter sich selbst wollen das Kapital beibehalten und vor Mißbrauch bewahren, in dem Sinn, daß das Einkommen besser verteilt wird. Sie wollen es zum Diener und nicht zum Herrn machen. Und sie erwarten, daß das Gemeinvermögen hinreichen wird, um für Kunst, Bildung und Muße zu sorgen, wie sie hochzivilisierte Gemeinwesen verlangen.“ (Also doch!)
„Sind Sie Nationalist?“ fragte Edward Bell. Auf diese Frage wäre ihm Rosa Luxemburg zweifellos noch ins Gesicht gesprungen. MacDonald sagte:
„Mit Herz und Seele! Es liegt etwas überaus Zartes und Schönes in der Liebe zur Heimat. Aber wenn ein Mann glaubt, seine Frau sei die Schönste in seiner Straße, so darf er sich deshalb noch nicht mit seinen Nachbarn schießen. .... Ein voll entwickeltes und richtig geleitetes Nationalbewußtsein ist ein Segen für die Menschheit.“
An anderer Stelle versichert MacDonald:
„Wir Sozialisten sind Dichter. Es gibt keine gute Politik ohne Poesie. ... Es ist ein unheilbarer Fehler der alten. Parteien, daß sie kein dichterisches Bewußtsein haben. ... Der Sozialismus schwärmt für Kunst und Klassiker, weil sie vermenschlichen. ... Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung sind alle nichts wert, wenn das Volk seine Seele nicht fördert ... Auch in einem armen Land sollten die Leute Bilder und Kunstgegenstände kaufen. ...“
Edward Bell: „Haben Sie kein Klassenbewußtsein?“
MacDouald: „Gar keines. Unsere Gegner sind die Leute des Klassenbewußtseins. ... Wir suchen es durch Gemeinsinn zu ersetzen. ... Wir haben den Klassenkampf nicht begonnen, das war immer der Kapitalismus (?!) ...“
Wer weiß, am Ende werden wir uns doch noch verstehen?