Original

15. Oktober 1924

Ich bin nicht Alexander der Große und ein Beamter der großen Zucker-Raffinerie von Tirlemont ist nicht Diogenes. Trotzdem fiel mir eben das geflügelte Wort ein, das der große Makedonier zu dem Philosophen im Faß gesprochen haben soll, als dieser ihn von den Vorzügen seiner Lebensauffassung überzeugt hatte: „Wenn ich nicht Alexander wäre, möchte ich wohl Diogenes sein.“ Mir geriet nämlich eine Broschüre in die Hände, die über die Wohlfahrtseinrichtungen der „Tirlemontoise“ ausführlich Kunde gibt. Und da dachte ich sofort: Wenn du nicht wohlbestallter Zeitungsschreiber an dem vorzüglichsten, bestredigierten und meistgelesenen Blatt der Hauptstadt von Luxemburg wärest, möchtest du wohl zum Personal jener berühmten Zuckerfabrik gehören.

Es muß schon von vornherein jedem Menschen, sogar wenn er zuckerkrank ist, einleuchten, daß man lieber in einer Zuckerfabrik, als in einer Benzin-, Wichs- oder Wagenschmierfabrik tätig ist. Der Zucker ist ein Produkt, dessen Name allein schon angenehme Vorstellungen weckt. Ja, man spricht sogar davon, daß er in vielen Fällen an unserer Mosel die Rolle der Sonne übernehmen muß. Es muß also etwas Schönes und Großes um den Zucker sein, und wer zu seiner Erzeugung und Verbreitung beiträgt, auf den fällt schon von vornherein ein Strahl jener Sonne, die uns jetzt den 1924er wieder mundgerecht machen soll.

Die „Tirlemontoise“ verdient aber nicht nur wegen des Zuckers, daß man von ihr spricht, sie ist auch in anderm Betracht merkwürdig. Sie gehört zu den kapitalistischen Unternehmungen, die nicht in Plusmacherei aufgehen, sondern auch darauf bedacht sind, ihren Angestellten und Arbeitern/ allerhand Vorteile zuzuwenden, die geeignet sind, zwischen Kapital und Arbeit ein auf Vertrauen gegründetes Verhältnis zu fördern.

Derlei Wohlfahrtseinrichtungen werden von sozialistischer Seite allerdings vielfach als Pflästerchen auf einem Holzbein verächtlich gemacht und so dargestellt, als ob sie das Endziel, die Vergemeinschaftung der Produktionsmittel, in weitere Ferne rückten, indem sie die Arbeiterwelt durch ein gewisses Dankgefühl und eben jenes Vertrauen einschläferten und dem Klassenkampf abgeneigt machten. Das setzt also jedenfalls voraus, daß solche Einrichtungen von den Arbeitern als Wohltat empfunden werden, und insofern verdienen sie, als nachahmenswertes Beispiel empfohlen zu werden. Selbst wenn es später einmal zu der gründlichen Umkrempelung der Verhältnisse kommen sollte, die uns schon so lange prophezeit wird, sind diese Zuwendungen immerhin eine Abschlagszahlung, die nicht zu verachten ist.

Es geht hier nicht an, sämtliche Vorteile aufzuzählen, die die Arbeiter der „Tirlemontoise“ im Interesse ihrer Gesundheit und außerdem bei allerhand Anlässen, Wochenbett, Kindtaufe, Hochzeit usw. genießen. Sie können auch im Bedarfsfall bei der Fabrik gegen geringfügige Zinsen Gelddarlehen aufnehmen, die sie in kleinen Raten langsam zurückzahlen, oder umgekehrt ihre Ersparnisse bei der Fabrik anlegen, die sie mit 7 % verzinst und dafür die staatliche Einkommensteuer übernimmt. Allein von den Arbeitern sind auf diese Weise 6 332 076 Franken Einlagen vorhanden, auch eine Art der Vulgarisierung des Industriekapitals. Jeder Arbeiter und Angestellte erhält jährlich 2000 Kilo Kohlen unentgeltlich, braucht er mehr, so wird ihm der Rest zum billigsten Preis berechnet. Die Milch erhalten sie von einem der Fabrik gehörigen Hofgut jeden Morgen ebenfalls so billig, wie nirgends sonst, ihren Bedarf an Eßwaren, Getränken, Kleidungsstücken, Hausrat usw. können sie in einem eigenen Ökonomat decken, das ihnen alle Waren zum Einkaufspreis abgibt. In bezug auf Zuschüsse zur Altersversorgung, Teuerungszulagen, Bau von Arbeiterhäusern, Ermöglichung des Baues eigener Häuser durch die Arbeiter usw. usw. sind die Bestimmungen vorbildlich. Jeder Beamte hat alljährlich Recht auf fünfzehn Tage Urlaub mit vollem Gehalt, mit sechzig Jahren ist er pensionsberechtigt und bezieht zwei Drittel seines Gehalts ohne Abzüge für eine Pensionskasse. Dabei wird den Beamten jedes Jahr ein dreizehntes Monatsgehalt bezahlt, außerdem beziehen sie Gratifikationen.

Es bliebe noch eine Menge zu sagen über den Verein vorm. Kriegskombattanten, die Einrichtungen für Spiele und Sport, Fortbildungsunterricht, Haushaltungskurse für junge Mädchen, den Bau einer Schwimmhalle, die wahrhaft großzügige Art, in der die Kinder der Arbeiter in ihren Studien gefördert werden, manche bis durch die Universitätsjahre hindurch, das Beamtenkasino mit seinem über drei Hektar großen Garten und seiner verschwenderischen Blumenpracht usw. Aber das Gesagte genügt, damit wir uns von der „Tirlemontoise“ eine etwas andere Vorstellung machen, als von einem auf reine Profitmacherei gerichteten Unternehmen.

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KatalognummerBW-AK-012-2744