Original

17. Oktober 1924

Ich habe ihn gesehen. Ich meine Ihn, groß geschrieben.

Wir fuhren durch eine .... übrigens, es ist ganz und gar gleichgültig und belanglos, wo ich Ihn gesehen habe. Er ist allgegenwärtig.

Er ist der normale junge Mann, im Gegensatz zu seinem alten Herrn. Der junge Müller - Lehmann - Schulze, Sohn der Aktienbrauerei, der Bank, der Industriemühle, der Apotheke, des Notars, Sohn irgendeiner angesehenen Großfirma am Platz. Er weiß, daß aller Augen auf ihn gerichtet sind. Er ist daher der normale junge Mann. Menschliche Konsektion sozusagen im Gegensatz zur Maßarbeit, die so stark wie möglich individualisiert. Bei ihm ist es das Gegenteil, das Individuelle ist weggeglättet, wie die Nase im Gesicht des guten Wenzel. Wer der gute Wenzel ist, erzähle ich Ihnen wohl ein andermal.

Man kam vom Begräbnis eines Mitbürgers, der zu den Honoratioren gehörte. (Warum gibt es Honoratioren nur in der Mehrzahl?) Beflorte Fahnen wurden in Vereinslokale zurückgetragen, die Freiwillige Feuerwehr war in Uniform, die Liedertafelmitglieder trugen ihre Vereinskappen, Zylinderhüte der verschiedensten Modelle blinzelten gegen die Sonne, wie Eulen bei Tag, und rochen nach Kampfer.

Da sah ich Ihn. Er verabschiedete sich von einer Gruppe von Damen. Sein Zylinder war einer der modernsten am Ort. Sein Sommerpaletot war am Rand handbreit gesteppt. Sein Gesicht war glatt rasiert. Er war nicht schwarz u. nicht blond, nicht groß u. nicht klein, nicht fett und nicht mager. Seine Züge verrieten weder Dummheit noch Intelligenz und nur eines stand darin allgemein leserlich geschrieben: daß er Leutnant der Reserve war. Vielleicht nicht dem Buchstaben nach, weil seit dem Kriegsende keine neuen Leutnants der Reserve mehr hergestellt werden dürfen. Aber dem Sinne nach. Und es liegt ein tiefer Sinn im kind’schen Spiel.

Er faßt seinen Zylinderrand vorne zwischen Daumen einer-, Mittel- und Zeigefinger andrerseits, den Ringfinger und kleinen Finger anmutig im spitzen Winkel zu den andern Fingern ausgestreckt. Dies ist kein Zylinderhut, bitte, dies ist ein preziöses Werkzeug, das der junge Mann als Künstler handhabt, um damit den Eindruck guter Manieren zu erzeugen, wie andere einen Pinsel benützen, um ein Bild zu malen.

Der junge Mann heißt am Platz der junge Müller - Lehmann - Schulze, bis der alte Müller - Lehmann - Schulze tot ist. Dann wird er bald der Müller - Lehmann - Schulze schlechtweg, bis er seinerseits einen jungen Müller - Lehmann - Schulze herangezogen hat, der von sich reden macht. Der junge Mann hat als Lausbub Äpfel gestohlen, hat als Gymnasiast Frühlings Erwachen mit dem Dienstmädchen erlebt, womöglich nicht ohne Folgen, ist dann auf die Universität gekommen, oder auf eine Brauerakademie, oder als Volontär in eine Bank oder in ein Geschäft, hat seine Sturm und Drangperiode gehabt, sein Alter hat laut geschimpft und heimlich zu seiner Frau gesagt: Teufelskerl, unser Julius. Na, man war ja auch mal jung.

Die Gärung verläuft normal und der junge Mann kommt ins väterliche Geschäft, wird ein geschätzter Skatspieler, weiß alphabetisch die 101 Zoten auswendig, die sich die normalen jungen Leute reihum zu erzählen pflegen, wird von den Müttern nur als möglicher Schwiegersohn gewertet, bildet eine Zeitlang eines der siebzehn Gesprächsthemen der Kaffeeklatsche, ist allen Töchtern seiner Kreise der mögliche Gatte, während sie doch tun, als dächten sie an gar nichts, indem sie sich unbefangen geben, alkoholfrei sozusagen, als sei es nur wegen des Sports, der jetzt doch so modern ist.

Der junge Mann wird sein ganzes Leben lang von sich sagen: Ich, ich, ich .... und sich dabei einbilden, er sei wirklich ein menschlicher Einzelfall. Er müßte sagen: Wir, wir Hunderte, Tausende, Millionen normaler junger Leute.

Wenn man es recht bedenkt: Es mußte dahin kommen. Denn die ganze Fabrikation geht auf Serienarbeit los.

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  • the stereotypical man
KatalognummerBW-AK-012-2746