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29. Oktober 1924

Eine junge Dame, die sich eine „alte Freundin“ von mir nennt, schreibt mir folgende Keif-Epistel:

„Auch Du, mein Brutus, dachte ich, als ich heute morgen Ihren Abreißkalender über den Bubikopf las. - Warum macht Ihr Männer eigentlich so viel Geschrei darüber? Wenn man im Glashaus sitzt, soll man nicht mit Steinen werfen. Hattet Ihr nicht selbst einmal wallende Locken, mit Schleifen geschmückte Zöpfe? Gab es nicht eine Zeit, in der Ihr Schnurr- und Kinnbärte trugt? Haben wir darüber geschrieben, wie Ihr es jetzt immer tut, wenn Euch der Stoff für etwas Gescheiteres ausgegangen ist? - Ich kenne außer mir noch eine ganze Anzahl Frauen, die ihr Haar nur aus hygienischen und praktischen Gründen kurz geschnitten tragen. Eine Frau mit Bubikopf kann sich den Luxus erlauben, beim Waschen den ganzen Kopf in die Waschschüssel zu tauchen, oder wenn sie dazu zu empfindlich ist, so kann sie sich doch wenigstens dreimal in der Woche den Kopf waschen. - Es sind also dieselben Gründe, die seinerzeit den Mann bewogen, sich den Bart zu scheren. - Wie kann ein Mann mit langem Patriarchenbart sich das Gesicht waschen? Taucht er erst den Bart ins Wasser und dann die Nase, oder zuerst die Nase und dann den Bart? Oder taucht er nichts wie die Nase hinein? -

„Machen Sie sich keine Sorgen um den Bubikopf, er wird am Leben bleiben. Höchstens Sklavinnen der Mode werden eine Ausnähme machen. Aber auch sie werden vergebens kämpfen. Frauen, die beruflich tätig sind, können sich nicht mehr daran gewöhnen, morgens zwei Stunden früher aufzustehen, um eine künstlerische Frisur zurecht zu drehen. -

„Es wäre reizend von Euch Männern, wenn Ihr vor Euern Türen kehrtet. Was hättet Ihr da zu tun! Auf, in den Kampf gegen die Herrenmoden. Bei Euch sind beängstigende Momente vorhanden. Wenn Ihr so weiter macht, lauft Ihr in absehbarer Zeit wieder mit langen Zöpfen und regenbogenfarbigen Kleidern herum. Viele Männer tragen ihre Haare heute schon länger, als die meisten Frauen. - Und dann - der Schrei des Modejünglings nach lebhaften Farben, seine enge Taille, die hohen Absätze und die seidenen Strümpfe usw. usw. - Hm?“

Also das hat man davon, wenn man Euch als Bundesgenosse an die Seite tritt! Hatte ich nicht geschrieben, der Bubikopf stehe Euch entzückend, ich sehe keinen Grund, darauf zu verzichten, und Ihr sollt den Modetyrannen die Zähne zeigen und bei den kurzen Haaren bleiben? Und nun kommen Sie mir so! Übrigens, wo haben Sie Ihre Kenntnis der Herrenmode her? Hohe Absätze? Wo sehen Sie hohe Absätze? Die waren einmal bei den italienischen Bergarbeitern in Esch Mode, der Gent von heute kennt nur die platten. Und die enge Taille? Wissen Sie nicht, daß die längst abgerufen ist?

Sie bilden sich etwas darauf ein, daß Sie für den Bubikopf als Entschuldigung die Hygiene ins Gefecht führen. Wenn er schön ist, braucht er keine Entschuldigung, und ist er häßlich, so kann ihm die Hygiene auch nichts helfen. Schlagen Sie um sich, so lange und so heftig Sie wollen, Sie und Ihre Schwestern haben auf Erden die Sendung, Trägerinnen der Schönheit zu sein, also gewöhnen Sie es sich ab, alles mit Hygiene machen zu wollen. Sie dürfen sagen, Schönheit ohne Hygiene gibt es nicht, aber Sie dürfen nicht das Evangelium der Hygiene ohne Schönheit verkünden.

Was nun den Bubikopf betrifft und ob er schön sei oder nicht: Da Sie sich einen haben schneiden lassen, muß er doch wohl schön sein. Wenn Sie das nicht Wort haben wollen, kündige ich Ihnen unsere „alte“ Freundschaft.

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KatalognummerBW-AK-012-2756