Original

30. Oktober 1924

Sollen wir naturalisieren oder sollen wir nicht naturalisieren?

Durch die Naturalisation nehmen wir Ausländer als gleichwertige Mitglieder in unsere nationale Familie herein. Sie können mit uns raten und taten, an der Leitung unserer Geschicke teilnehmen, über Wohl und Wehe des Ganzen mitbestimmen. Heikle Sache. So heikel im Großen, wie eine Heirat im Kleinen.

In der Bibel ist irgendwo die Frage gestellt, ob der Mensch heiraten soll oder nicht. An den Wänden eines Bockbier-Kellers auf dem Kreuzberg zu Berlin sah ich vor Jahren die Frage entschieden bejaht. „Mensch, du mußt heiraten!“ lautete auf zahlreichen Plakaten der kategorische Imperativ dieses damals geflügelten Wortes. In der Bibel sagen sie: Heiraten ist gut, nicht heiraten ist besser! Der Kirchenvater, der diese Weisheit von sich gab, war anscheinend Witwer oder geschieden.

Auf unsern Fall angewandt, lautet also der Rat: Naturalisieren ist gut, nicht naturalisieren ist besser. Ein anonymes Plakat rät dringend davon ab, aber unsere Parlamentarier lassen sich am allerwenigsten durch anonyme Diktate beeinflussen. Von stärkerer Wirkung war schon, grade am Vorabend der angekündigten Entscheidung über die Naturalisationen, die Meldung, daß sich hier ein Auslandbund der Deutschen niedergelassen hat. (Patriotismus 1 a, Diplomatie schwach.) Vorläufig ist also das ganze Verfahren niedergeschlagen.

Wir haben recht, daß wir keinem Ausländer die luxemburger Staatsangehörigkeit nachwerfen. Paul Eyschen sagte einmal in der Kammer, wir sollten mit Naturalisationen nicht zu verschwenderisch umgehen, wir seien eines von den wenigen Ländern, wo die Naturalisation noch etwas wert sei und dementsprechend hoch gehängt werden sollte. Anderswo, in Ländern mit militärischer Dienstpflicht, wußte der Naturalisierte, wozu er sich verpflichtete, schon im Frieden und erst recht im Krieg. Bei uns dagegen bezahlte er seine Steuern und sitzt im übrigen auf einer Freistatt, wo er vor aktiver Inanspruchnahme durch Kaserne und Schützengraben sicher ist. Manche haben erfahrungsgemäß die luxemburger Staatsangehörigkeit nur wegen der Befreiung von der Dienstpflicht erworben, andere, die sie schon erworben hatten, verzichteten auf den Schutz, den sie ihnen gewährte, und stritten für das Land ihrer Väter. Wenn sie Dupont oder Durand hießen, wurden sie bewundert, hießen sie Müller oder Schulze, so sagte alle Welt: „Da haben wir’s ja!“ Der Unterschied lag eben darin, daß die Müller und Schulze mit denen stritten, die uns einsacken wollten.

Wie das Heiraten, so sollte auch das Naturalisieren eine durchaus individuelle Angelegenheit sein. Es gibt Fälle, wo die Naturalisation nur mehr eine Formel ist, weil der Betreffende von Kindsbeinen an in allem Äußern und Innern Luxemburger war. In andern Fällen ist sie eine Sache der Gerechtigkeit oder Opportunität. Es kommt dann eben darauf an, ob der Gesuchsteller persönlich der erbetenen Gunst nicht unwürdig ist. Zuweilen mögen die Tatumstände entschieden für die Naturalisation sprechen, während die Persönlichkeit des Kandidaten gegen ihn einnimmt, zuweilen liegt der Fall umgekehrt. Am stärksten dabei interessiert sind jedenfalls diejenigen, die am unmittelbarsten mit dem Kandidaten zu tun haben und die ihn deshalb auch am besten kennen. Auf ihr Dafürhalten sollte daher das meiste Gewicht gelegt werden.

Vor allen Dingen aber müßte unser Gesetz über die Naturalisationen durch ein Gesetz über Denaturalisationen ergänzt werden. Das heißt also, daß ein Naturalisierter, der sich als schlechter Luxemburger bewiesen hat, denaturalisiert werden könnte. Die Fälle kommen vor. Im allgemeinen ist es ja so, daß die Nachkommen eines Naturalisierten schon im nächsten Geschlecht vorzügliche luxemburger Patrioten werden, aber er selbst fällt vielleicht auf seine alten Füße zurück. Wir zeigen ja noch heute mit Fingern auf frühere Deutsche, die 1914 beim Einzug der Aufmarschtruppen den Mund erstaunlich voll nahmen und triumphierend verkündeten, jetzt habe es aber für uns geschellt und jetzt hätten sie zu reden und wir das Maul zu halten.

Wir müßten es uns gönnen, daß wir diese Wackeren auf den Fuß nähmen und mit nachdrücklichem Schubs an die Luft setzten.

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