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5. November 1924

Wassersnot! Von allen Seiten und aus allen Ländern Europas kommt wieder das Wehklagen, und bald werden wir in den illustrierten Zeitungen wieder die Bilder sehen, auf denen aus spiegelnder Wasserwüste Baumwipfel und Häusergiebel halb ersäuft emporragen, während sorgenvoll dreinschauende Männer in Kähnen fahren, Tierleichen mit gedunsenen Bäuchen zu Tal treiben, zusammen mit allerlei komisch herumgedrehtem Hausrat. Alles ist bekümmert und nimmt dem lieben Herrgott den Spaß übel, nur die Buben, die ausrissigen Tunichtgute freuen sich des neuen Erlebens, des seltenen „Zodi“. Feuersbrünste und Überschwemmungen sind ihnen herrliche Gottesgeschenke, denn alle unbändige Kraft in schrankenlosem Austoben füllt sie mit Wonne. Und wenn demnächst wieder Postkarten erscheinen mit Bildern des überschwemmten Marktplatzes in Remich, so wird man darauf in der ersten Reihe die Hanny und Pitty und Fränz erblicken, die vor Jux über das nasse Durcheinander grinsen.

Sie haben gut lachen. Aber wer die Verantwortung fühlt, wer da zwar weiß, daß er für ein ertrunkenes Ferkel ein anderes kaufen muß, aber nicht, wo er das Geld dazu herholen wird, zumal ihm die Mosel auch noch im Keller die Fässer mit dem jungen Wein herumschmeißt, der lacht nicht. Ihm ist das steigende Wasser die unheimlichste Macht. Insinuant und brutal, heimlich und gewalttätig zugleich dringt der ungebetene Gast überall ein, sickert durch haardünne Kanälchen durch Erde und Mauern und wälzt sich mit wahnsinnig gewordener Dampfwalzenwucht über alle Hindernisse. In Wiesen, Äckern, Gärten, Kellern und Ställen läßt er sich zur Not ertragen, aber wenn er bis in die Stuben dringt, hört alle Gemütlichkeit auf. Man denkt an den 2. August 1914, wenn die erste Wasserschlange den Kopf über die Schwelle hebt und rasch durch den Hausgang bis in die Küche und unter den Stubentüren durch kriecht, wenn sich die trübe Flut mit ruhiger Frechheit über die Fußböden breitet, unschuldig und gesittet in den warmen Wohnstätten der Menschen plätschert, als wollte sie sagen: Was schreit Ihr denn, hier drinnen tu ich Euch doch nichts, seht, wie still ich mich verhalte - und dabei steigt sie langsam und heimtückisch an den Tischbeinen und Treppenstufen und Bettpfosten hinauf mit mörderischen Hintergedanken. Da draußen hätte sie einen mit Gebraus und Geheul erwürgt, hier will sie ihre Opfer unheimlich still im Dunkel der Nacht erdrosseln. Auf der sonnigen Hotelterrasse, wo sie sich noch vor zwei Monaten darum stritten, ob der 21er Heiligenhäuschen vom Becker aus Ehnen oder der Wormeldingen vom Pündel-Entringer besser sei, da steigt die Mosel vielleicht bald den Zechern bis an die Brustwarzen und der Wirt könnte aus seinem Schlafzimmer auf die Rotaugen angeln, die er im Sommer und Herbst nicht gefangen hat.

Heute ist das eine Katastrophe. Aber man muß sie mit in den Kauf nehmen, wenn man die Vorteile genießen will, die die Nähe des Stromes bietet. Es ist schließlich ja auch etwas wert, daß man an seiner Haustüre in Kniehöhe ein Schild anbringen kann: Wasserstand am 25. Dezember 1919 oder am 1. November 1924 - das man dann im Sommer mit bescheidenem Stolz seinen Touristen aus Frankreich Belgien - Preußen zeigen kann, damit sie Respekt bekommen vor dem sanften, blauen Strom, der so ruhig und idyllisch zwischen seinen Ufern dahinzieht und wenn’s hoch kommt mit dem Schilf träumerisch um die Wette rauscht.

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KatalognummerBW-AK-012-2760