Original

6. November 1924

Glocken können reden und Glocken können singen.

Wenn sie die Uhr schlagen, so reden sie, wenn sie läuten, so singen sie.

Reden ist immer Sache eines Einzelnen. Singen kann man auch im Chor.

Nur in Körperschaften, die eine strenge RedeOrdnung besitzen, wie Kammer und Gemeinderat, kommt es vor, daß sieben zu gleicher Zeit reden, trotzdem nur ein Einziger das Wort hat. In einem Kirchturm, wo mehrere, oft vier Glocken zusammen hängen, redet immer nur eine einzige, aber singen tun sie manchmal im Chor. Reden im Chor gibt es bei den Glocken nicht. Sie wissen, daß sie sonst nicht verstanden würden. Wenn ihrer vier miteinander verkünden wollten, daß sieben Uhr ist, so hielten sich die Leute die Ohren zu und riefen: Eine nach der andern, so versteht man ja keine von Euch! In der Kammer ist es genau so. Dann klingelt der Herr Präsident und dann versteht man überhaupt nichts mehr. Oft ist es sehr gut, daß man nichts mehr versteht.

Mit der Glocken Rede ist es wie mit der Menschen Rede. Wenn Gesang zum Herzen sprechen will, so spricht die Rede zum Verstand. Wenn Glocken reden, so heißt das: Dalli dalli, junger Mann, es ist drei viertel acht, um acht mußt du in der Schule sein. Nichts gelernt hast du noch, und gefrühstückt hast du auch noch nicht? Das geht mich nichts an, es ist acht Uhr, das habe ich dir mitzuteilen, du hast die Konsequenzen zu ziehen!

Der junge Mann hat nur einen Trost, er weiß, die Glocke ist gegen den Herrn Professor genau so unerbittlich. Und auch Professoren können zuweilen triftige Gründe haben, eine Stunde länger schlafen zu wollen und die Glockenrede zudringlich zu finden.

Die Glocke redet ihre eherne Rede und alles, was an die Zeit gebunden ist, horcht auf und rüstet sich Die redende Glocke hat die Stimme der Pflicht. Und Pflicht ist nicht Herzens- sondern Verstandessache. Wir haben dieser Tage gehört, daß sich die jungen Mädchen sogar die Haare abschneiden, um der Glocke morgens aufs Wort folgen zu können, und keine Zeit mit ihrer Frisur zu vertrödeln.

Aber die Glocke ist auch gerecht. Ist die Pflicht erfüllt, so verkündet sie mit derselben Pünktlichkeit die Sekunde der Erlösung. Und der junge Mann, der um acht Uhr die Glocke verwünscht hat, segnet sie um elf, wenn der Herr Professor in seinem Notizbuch einen heraussticht, der „gerufen“ werden soll. „Um Gottes willen!“ denkt der junge Mann, „es wird doch mich nicht treffen. Wo gestern abend Tanzstunde war bis Mitternacht und ich vom Geschichtspensum keine Ahnung habe!“ Da fällt wie Sphärenmusik der erste Schlag vom Kirchturm, der Herr Professor klappt sein Notizbuch zu und sagt: „Müller, diesmal hast du Glück gehabt!“ Und Müller denkt: „Noch viel mehr, als Sie ahnen, Herr Professor!“

Wenn Glocken singen, ist es viel, viel schöner, als wenn sie reden. Wie ja auch das Herz eine ganz andre Nummer ist, als der Verstand. Denn der Verstand dient dem Herzen, aber das Herz nie dem Verstand. Es ist das Köniskind, er ist der Taglöhner.

Wenn Glocken singen, so holen sie tief Atem und geben ihren ganzen Klang aus, grade wie ein Sänger seine Stimme. Über der Rede strengt er sich nicht weiter an, aber wenn er zum Singen ausholt, hei, dann füllt er erst den ganzen Brustkosten mit Luft und ist mit Hochdruck dahinter und geht gleich in den ersten Gang, wie ein Motor, der sich eine steile Steigung hinaufsingt. So sagt die Glocke: Es gilt, jetzt wird gesungen, dies ist was fürs Gemüt, also los, daß es schwingt und schallt über Berg und Tal. Sieh, dahinten, wo die Straße um den Hügel sich windet, kommt einer, der hat lange die Heimatglocken nicht gehört - bim bam borum! - nur zu, alle zwei, alle drei miteinander - seht Ihr, wie er aufhorcht! Oder: Heute ist Ostern, heute singen wir unser Osterlied - die Osterglocken, die Osterglocken, oh, wie sie läuten, oh, wie sie locken! Oder: Ein armer Kerl ist gestorben, wir singen ihm ein Totenlied. Oder: Der rote Hahn schlägt auf einem Dach mit den Flügeln, wir singen das gruselige Lied, das die Menschen aus dem Schlaf scheucht und zu Hilfe ruft. Oh, unser Lieder-Repertoire ist reichhaltig. Wenn auch der Banause meint, es sei immer dasselbe Lied, die uns verstehen, wissen genau, daß wir das Jahr entlang tausend verschiedene Lieder singen.

„Blödsinn!“ sagt Grimberger. „Eine bestimmte Masse bestimmten Metalls wird in eine bestimmte Form gegossen und gibt bestimmte Töne von sich wenn sie mit einem harten Gegenstand in Berührung kommt. Der Rest ist Quatsch!“

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