Original

11. November 1924

Die vielen Spaziergänger, die am Sonntag das schöne Wetter u. a. auch ins Petrußtal gelockt hatte, erlebten eine Überraschung, die man schwerlich als angenehm bezeichnen konnte. Sie sahen die Fluten des Baches, die sicher schon alle Farben des Regenbogens hatten, diesmal rosenrot. Buchstäblich rosenrot. Und wo an tieferen Stellen das Wasser träge stand, schien es sogar rot, wie Riesenblutlachen. An dem Wehr bei der früheren Schleuse kräuselte sich der Schaum, der sonst schneeweiß ist - wenn er nicht grade schlammig gelb ist - diesmal wie Wölkchen im Abendrot, zart rosa durchhaucht .... es war gradezu ekelhaft.

Jawohl, meine Gnädige, ekelhaft. Abgesehen davon, daß das schöne rosarote Wasser abscheulich stank. Aber schon die entzückend zarte rosarote Farbe war ekelhaft. Es ist direkt komisch, wie die Farben auf uns reagieren. Gibt es etwas Bestechenderes, als den rosaroten Schimmer auf einer frischen Mädchenwange, ist nicht die rosarote Rose die Königin der Blumen, tun sie kein Rosenrot ins Eis und in manche Getränke, um sie auch aufs Auge verführerisch wirken zu lassen, kurzum, ist Rosarot nicht das Symbol des Zarten, Sanften, jugendlich Reizenden und köstlich Süßen? Jawohl, Herr Grimberger, ich weiß, Sie haben lieber Kaviar und Mumm extra dry. Aber wir reden hier nicht von Ihrem Privatgeschmack, sondern von Anschauungen, die durch Jahrhunderte bestätigt sind. Schon die Römer spitzten die Lippen, wenn man ihnen rosarot kam. Und warum entsetzten sich die Spaziergänger am Sonntag über das rosarote Wasser des Baches - auch abgesehen davon, daß es stank?

Ja, warum? Warum ist uns rosarot in dem einen Fall ein Symbol des Lebens und grün ein Symbol des Todes und im andern Fall umgekehrt? Ein rosiges Menschengesicht lacht uns an - liegt es mit grünen Reflexen auf der Bahre, bedeutet es Verwesung. Wasser muß, um uns den Eindruck der Frische und Erquickung zu machen, grün oder blau sein - vor rotem Wasser prallen wir entsetzt zurück, weil es an Blut erinnert. Blut ist Lebenssaft, allerdings, aber es gehört in die Adern, nicht in einen Bach. Und die meisten Spaziergänger im Petrußtal dachten Sonntag an Blut. Das Wort Schlachthaus fiel, und jeder war sicher, daß die rote Brühe von einem großen Reinemachen im Hollericher Schlachthof herrührte. Diese Hypothese wurde indes unwahrscheinlicher, je länger die rote Flut sich ergoß und je roter sie wurde. Um die Petruß so konsequent mit der Farbe des Blutes zu durchdringen, hätte schon in den Merler Wiesen eine männermordende Schlacht den ganzen Tag über wüten müssen.

Die Leute im Grund regten sich über das Phänomen weiter nicht auf. Es stank eben, wie es schon so oft gestunken hatte, und die Farbe - du lieber Himmel, wer regt sich denn noch über die Farbe des Petrußwassers auf!

„Wir sind darauf trainiert,“ sagten sie. Einer meinte voller Humor, in Hollerich hätten sie das Gelübde getan, kein Bier mehr zu trinken, und ließen nun ihre vollen Fässer in den Bach laufen. Aber abgesehen davon, daß die Farbe nicht stimmte, litt die Voraussetzung an innerer Unwahrscheinlichkeit.

Ein älterer Mann, der im Grund geboren und aufgewachsen war, sagte:

„Es kommt von da oben.“

Er wollte damit sich und seine engeren Mitbürger vor dem Verdacht schützen, als seien sie diesmal an der Verunreinigung des Baches schuld. „Da oben“, das ist für sie das vage Geschick, unter dem sie zu leiden haben, und das sich zusammensetzt aus einer ergiebigen Stadtkloake, aus zwei Gasfabriken, aus allerhand geheimnisvollen Betrieben, die Gott weiß welche unappetitlichen Chemikalien unter sich gehen lassen, aus zahllosen Abflußröhren mit mehr familialem Charakter, aus einem Schlachthaus und außerdem einer Unmenge unsauberer Allotriis. Das ist „da oben“, ein Verhängnis, das sie gottergeben hinnehmen, wie eine Fügung des Himmels, gegen die jedes Aufmucken zwecklos wäre. Auch der Polizeimann, der sonst jedem Unfug auf den Grund geht, zuckte machtlos die Achseln.

Und inzwischen floß „da oben“ aus einer Ufermauer heimtückisch und unablässig die verdammte Sauce, die kilometerwelt das Wasser - das diesmal wirklich einmal verhältnismäßig klar hätte sein können - verfärbte und gen Himmel stank.

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