Original

13. November 1924

Die „Hanseatische Verlagsanstalt“ in Hamburg bringt einen Zyklus „Bauern und Helden, Geschichten aus Alt-Island“ heraus, von dem uns zurzeit die zwei ersten Bände: „Gkum der Totschläger“ und „Die Schwurbrüder“ vorliegen.

Professor Jean Marie Carré aus Lyon spricht heute abend im Volksbildungsverein über „Les Interprétations de l’Allemagne dans la littérature française au XIX siècle“.

Sie fragen: Was haben altisländische Bauerngeschichten mit der französischen Litteratur des 19. Jahrhunderts und deren Spiegelung der deutschen Psyche zu tun?

Der Zusammenhang besteht, man braucht ihn nur aufzuzeigen.

Herr Professor Carré wird uns also nachweisen, wie sich Deutschland in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts spiegelt.

Die Literatur eines Volkes ist der Seele eines andern Volkes gegenüber ein Spiegel, der selten treu, sehr oft verbogen ist, konver oder konkav, dazu verfärbt, und deshalb meist ein schiefes, oft ein verzerrtes Bild zurückwirft.

Den Gelehrten interessiert in solchem Fall nicht nur das Bild, sondern auch der Spiegel. Und wenn Herr Professor Jean Marie Carré einmal ein Spiegelbild der deutschen Volksseele von heute betrachten will - wie sie vielleicht noch nicht ist, wenigstens nicht ganz bewußt, aber wie sie von geistigen Führern gestaltet werden soll -, so sei ihm geraten, dies Bild weniger in der deutschen Literatur von heute, als in den Buchhändleranzeigen zu suchen. Und da wären wir bei den altisländischen Helden- und Bauerngeschichten der Hanseatischen Verlagsanstalt.

Nach dem siegreichen Krieg von 1870 empfanden die Deutschen das Bedürfnis, ihre Lebensformen auf altdeutsche Vorbilder einzustellen. Es war eine Art dankbarer Verbeugung vor den Altvordern, die auf das jüngste Geschlecht so tüchtige Eigenschaften vererbt hatten.

Nach dem verlorenen Krieg von 1914-18 machte sich ein ähnliches Einkehrbedürfnis geltend, nur daß diesmal ein Verlangen nach Trost und Zuversicht maßgebend war. An den Beispielen der ältesten Urahnen sollte sich der Mut der Heutigen aufrichten, damit sie durch die Niederlage nicht an sich und dem Wesen ihrer Rasse irre würden. In diesem Bestreben wird auf die ältesten bekannten Zeugnisse für germanisches Fühlen und Denken zurückgegriffen. „Die Heimkehr“, Verlag, Pasing vor München wirbt für eine neue Edda-Übersetzung von Gorsleben und schreibt:

„Vertiefung in die Seele unsrer Raffe, in das uns eingeborene Deutschtum, seine Geschichte, sein Schrifttum, seine Kunst, Wissenschaft und Gottesanschauung und die aus diesem Lehren und Lernen wiedergewonnene Selbstsicherheit wird uns den Standort unserer zweifelvollen Gegenwart erkennen lassen und uns wieder dem rechten Ziele zuführen. Ein solch ragender Berg am fernen heimatlichen Horizont, von dem uns Hoffnung und Hilfe kommt, ist die Edda.“

Der Verlag Grethlein u. Co., Leipzig-Zürich, bringt eine „Huna-Edda“ heraus, einen Roman „Wieland der Schmied“ von Ludwig Huna, von dem Paul Burg in der Leipziger Abendpost schrieb: „Hier ist Urquell und tiefste Wurzel germanischer Art. Das sprüht und braust, das schweigt und starrt um uns wie die große unendlich stumme und doch so beredte germanische Vorzeit.“

Aber kommen wir zu den beiden erwähnten Büchern der Hanseatischen Verlagsanstalt, „Glum der Totschläger“ und „Die Schwurbrüder“. Es sind altisländische Sagas, übertragen und jede mit einer Einführung herausgegeben von Walter Baetke. Zum ersten Mal wohl wird hier der Schatz jenes urgermanischen Schrifttums so gehoben, daß jeder Teil davon zum Gemeingut der zivilisierten Welt werden kann. (Hall Cane’s Belebung der Epoche, in der die Sagas entstanden, macht auf literarhistorischen Wert wohl keinen Anspruch.) Man hat beim Lesen dieser Geschichten aus Alt-Island ein ähnliches Empfinden, wie beim Betrachten der sagenhaften Kostbarkeiten aus dem Grabe Tut-enk-Amon’s. Dieselbe Möglichkeit, unmittelbar die Dinge jener Zeit zu greifen. Denn diese Sagas klingen in der Übertragung Walter Baetke’s nach Form und Inhalt wie Bauerngeschichten aus unsern Tagen.

Daß sie grade jetzt ausgegraben werden, ist wie gesagt für die deutsche Psyche von heute so bezeichnen, daß niemand, der sich für Völkerpsychologie interessiert, achtlos daran vorüber gehen sollte. Wer daran zweifelt, braucht nur im Vorwort des Herausgebers Sätze zu lesen, wie diese:

„Die Renaissance des heidnischen Altertums der Griechen und Römer hat in einer Renaissance des heidnischen Altertums der Germanen ihr notwendiges Gegenstück bisher nicht gefunden. Wenn jedoch die Zeichen nicht trügen, so will sich diese Wiedererweckung heute anbahnen. Und daß sie möglich ist, verdanken wir nach dem Untergang der festländischen Zeugnisse germanischen Geisteslebens dem skandinavischen Norden.“ ... „Vor allem wird uns aus den Sagas die Struktur der germanischen Seele deutlich: ihre Art zu lieben und zu hassen, das Leben und die Menschen zu werten, sich zu freuen und zu leiden. Was germanisches Ehrgefühl ist, was Pflicht, Rache, Schuld und Schicksal im Sinne unsrer Vorfahren bedeuten, das erleben wir in den Sagas.“ ....

Grade für Nichtdeutsche ist es klug und lehrreich, diese seelische Selbstentdeckung der Deutschen von heute aufmerksam zu verfolgen.

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KatalognummerBW-AK-012-2767