„Ich muß zu meiner Schneiderin,“ sagte die junge Dame. „Sie wohnt auf dem Wasserturm.“
Daß eine Schneiderin auf dem Wasserturm wohnen sollte, schien mir extravagant. Ich hatte den Wasserturm von meiner letzten Streife über den Limpertsberg her in der Erinnerung als eine Art steinerne Bajonettflinte, die starr in den Himmel sticht und als Wohnstätte für Menschen im allgemeinen und eine Damenschneiderin im besondern nur im äußersten Notfall in Betracht käme.
Eine Untersuchung an Ort und Stelle bestätigte meine Zweifel. Die Schneiderin wohnt am Wasserturm, aber das Viertel heißt „auf dem Wasserturm“. Er ist das Wahrzeichen der Gegend.
Ähnlich sagen wir: Auf dem Limpertsberg. Jeder Fremde denkt dabei an einen wirklichen Berg. Die Trambahnschaffner sagen sogar: Wir fahren auf den Berg. Unwillkürlich denkt man an eine Zahnradbahn, wie sie etwa in der Schweiz von Lauterbrunnen nach Wengern hinaufkraxelt. Aber dieser Berg ist gar keiner. Die Limpertsberger liegen der Altstadt gegenüber so wenig auf einem Berg, wie das Café du Cercle dem Grand Café am Paradeplatz gegenüber auf einem Berg liegt. Höchstens könnte man sagen, die Eicher hätten recht, wenn ihnen der Limpertsberg tatsächlich als Berg erscheint, aber dann hat er vor dem Zentrum so gut wie nichts voraus.
Ich will die Limpertsberger nicht demütigen, wenn ich ihnen so gewissermaßen den Berg unter den Füßen wegziehe, aber sie sollten selbst darauf halten, daß aus dem Sprachgebrauch diese Vorspiegelung falscher Tatsachen verschwindet. Statt: Ich gehe oder fahre auf den Limpertsberg, sollten wir einführen: Nach Limpertsberg. Wir sagen ja auch nicht: Ich gehe auf den Budersberg oder auf den Angelsberg, es heißt da selbstverständlich: Nach Budersberg, nach Angelsberg, obgleich der Weg nach Angelsberg dem Wandrer von Mersch her zweifellos den Eindruck macht, daß er einen Berg ersteigt.
Nachdem wir so den Limpertsberg vom Rang eines Berges zu dem einer einfachen Ortschaft begradiért haben, sind wir ihm auf der andern Seite allerhand Kompensationen schuldig.
Am Limpertsberg ist bei seiner Bebauung seinerzeit schwer gesündigt worden. Diese große, sanft nach Süden abgedachte Fläche, wo eine zweckmäßige Bebauungspolitik aus dem Vollen schaffen konnte, war von idealer Eignung für ein musterhaftes Gartenstadtviertel neuesten Stils. Durch eine vernünftige Bauordnung brauchte nur die geschlossene Bauweise verboten zu werden und statt der traurigen Häuserzeilen hätten wir heute Hunderte bescheidener Villen inmitten eines herrlichen Gartenflors. Die Spekulation hätte weniger verdient, die Hausbesitzer hätten für dasselbe Geld eine angenehme Wohnung und der ganze Limpertsberg wäre ein Schmuck für die Stadt.
Indes, da ist nichts mehr zu ändern, heute heißt es, Limpertsberg über Park und Glacis herüber zu den Umtrieb des städtischen, Lebens immer enger einzubeziehen.
In Städten, die ins Weite streben, pflegt man der Ausdehnung dadurch Wege zu weisen, daß man über die Peripherie hinaus den Kern eines künftigen Zentrums anlegt. So war beispielsweise in Madrid das Ministerium der Landwirtschaft, ein Prachtbau, weit hinaus vor die Stadt inmitten der Äcker gebaut worden, damit sich drum herum ein neues Viertel kristallisierte. Limpertsberg ist, zu drei Seiten von tiefem Taleinschnitt umschlossen, eine Sackgasse, die der Gefahr der Isolierung ausgesetzt ist. Man merkt es schon daran, daß sich dort so viele Klosterniederlassungen anhäuften. Die Lage des Vororts schließt auch einen näheren Zuweg zum Schienenstrang aus, ein Bahnhof Luxemburg-Ost, West, Nord oder Süd liegt noch in unabsehbar weiter Ferne. Für Limpertsberg wäre also ein Zentrum zu schaffen, das ein Verkehrsband zwischen draußen und der eigentlichen Stadt schüfe. Die Schulen sind in dieser Richtung schon etwas, aber zu wenig. In dem Verkehr, den sie herstellen, pulsiert zu wenig die Ader des Wirtschaftslebens. Die Mustermesse könnte der Anstoß zu einer dauernden Einrichtung werden. Warum draußen auf dem Terrain der Mustermesse nicht eine Halle errichten, in der Art wie in Paris die beiden Palais an den Champs Elysées (Excusez du peu!), ein einfaches, aber architektonisch einwandfreies Gebäude, das außer der Mustermesse das ganze Jahr über allerlei Ausstellungen und Veranstaltungen beherbergen könnte? Das sind wir den Limpertsbergern sozusagen schuldig, nachdem wir ihnen unserm schönen Stadtpark und der Schobermeß zulieb den unmittelbaren Anschluß an das Weichbild versagt haben.