Original

2. Dezember 1924

Jakob - wir nennen ihn Jakob, weil dieser Name onomatopoietisch so gut zu ihm paßt - also Jakob brachte mir die Kreutzersonate wieder, die ich ihm geliehen hatte.

„Dieser Tolstot ist ein Stiesel!“ sagte er. „Er ärgert sich darüber, daß sich die jungen Mädchen hübsch kleiden, um den Männern zu gefallen, und er fände es am schönsten, wenn keine Kinder mehr gezeugt würden, damit die Menschheit ausstürbe. Das nennt er die endgültige Einigung der Menschen. Erst sollen die Leute nichts wie heiraten und dann sollen sie heiraten ohne zu heiraten.“

Jakob redete sich in einen gesunden Ärger hinein.

„Tolstoi hat gut reden. Man heiratet nicht, wenn man will. Auch als Mann nicht. Ich weiß davon ein Liedchen zu singen.“

„Singen Sie mir das Liedchen, Jakob!“ bat ich ihn.

„Ich war verlobt. Jawohl, wie Sie mich hier sehen, 1 Meter 97, gesund, geimpft, Appetit vorzüglich, Galanterie schwach - ich war mit einem reizenden jungen Mädchen verlobt. Später hat ein Freund von mir sie geheiratet. Es geschah ihm recht. Von gemalten Töpfen, die zum Brennen in den Osen kommen, weiß man nie, wie nachher die Farbe ausfällt.“

„Und wie kam es, daß Sie sich entlobten?“

„Daran ist Willy schuld. Er hatte in Gesellschaft eine Geschichte vom Fischer-Mathes aus Trier erzählt. Keine von denen, die Sie kennen. Diese hier ist aus dem zarten Knabenalter des Herrn Fischer. Er spielte eines Tages in der Dämmerung mit seinen Altersgenossen Menagerie an der alten Ringmauer in Trier. Schellenmauer hieß der Ort, glaube ich. Es muß in der Gegend gewesen sein, wo heute der BalduinsBrunnen steht. Wie sie lustig am Spielen sind, sagt auf einmal der kleine Mathes, der einen Löwen vorstellte: „Eich sein net mich met!“ - „Ja,“ sagt der Direktor, „woarum wellst dou dan net mieh met sein?“ - „Eich sein net mieh met!“ - Alles Zureden half nichts. Der kleine Mathes blieb dabei, daß er nicht mehr mit sein wollte. Endlich rückte er mit der Farbe heraus: „Eich hun met der linker Vordertatz en eppes Weiches getrehten.“

Als Jakob mit seiner Erzählung so weit war, wurde er von einem solchen Lachkrampf gepackt, daß ich einen Schlagfluß befürchtete.

Ich wartete, bis er wieder zu sich kam und bis einige schwächere Anfälle ebenfalls sich gelegt hatten. Dann fragte ich, was denn der Fischer-Mathes mit seiner Ver- und Entlobung zu tun hatte.

„Ja sehen Sie,“ erklärte er mir treuherzig, „diese Geschichte von dem Knaben Fischer-Mathes ist eine von denen, über deren eingeborene Komik ich mich vettungslos totlachen muß. Die zwei Ingredienzien Ernst und Pech sind darin mit elementarer Reaktionsgewalt gemischt. Also gestern hatte uns der Willy die Geschichte erzählt, heute war unser Verlobungsessen. Ein Onkel meiner Verlobten - er war der Erbonkel der Familie und Vorsitzender eines Sterbekassenvereins - hielt die Rede. Er sagte: „„Meine lieben Brautleute. Ihr macht Euch hoffentlich klar, in was Ihr zu treten gesonnen seid!“

Weiter kam er nicht. Vor meinem geistigen Blick stand der kleine Fischer-Mathes an der Schellenmauer in Trier als Löwe und schüttelte die linke Vordertatze, mit der er in etwas Weiches getreten war. Es barst aus mir heraus, wie eine Explosion, die Mutter meiner Verlobten rückte entsetzt von mir ab, der Vater schlug mir ängstlich mit der Hand auf den Rücken, als ob ich mich verschluckt hätte, und der Erbonkel betrachtete mich salbungsvoll mit einem Blick, in dem geschrieben stand: Dieser junge Mann entbehrt des sittlichen Ernstes, dessen er bedürfte, um mich zu beerben!

Er behielt recht. Die Verlobung wurde gelöst. Der Fischer-Mathes war schuld daran, aber dafür kann ich heute dem Grafen Leo Tolstoj und der Kreutzersonate gegenüber meine Hände in Unschuld waschen.“

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