Original

3. Dezember 1924

Also der Dreck! Kinder, einmal im Jahr müssen wir von ihm reden. Er ist doch schließlich eine kommunale und staatliche Einrichtung, ein Wahrzeichen der Stadt, er ist so offiziell, wie die sozialen Versicherungen, wie die Feuerwehr, wie die Polizei, wie das Konservatorium. Jawohl, wir möchten ihn loswerden, jedermann möchte ihn loswerden, aber er ist von einer rührenden Anhänglichkeit. Schon deshalb müssen wir von ihm reden. Ist es nicht rührend, wie er sich alles gefallen läßt! Man schimpft ihn, hält ihm seine Sünden vor, tritt ihn mit Füßen, sagt ihm bei jeder Gelegenheit, wie man sich freuen würde, wenn er nicht mehr da wäre - und er läßt sich schimpfen und treten, duldet schweigend und breitet sich aus, immer weiter, immer saftiger.

So Ihr ihn in seiner Sünde Maienblüte sehen wollt, so geht an den Königsring, ganz unten am Gebäude des Landwirtschaftsverbandes. Da herrscht er, gleichsam als sei er der König, der dem Ring seinen Namen gibt. Rein gemalen, wie Schokoladecreme überzieht er die Straße, spritzt unter den Rädern hoch, legt sich liebevoll um die Schuhsohlen und vergoldet die Schuhspitzen.

Verachtet ihn nicht. Denn dereinst werdet Ihr mit Wehmut an die Zeit zurückdenken, wo er ein Bestandteil unseres Straßenbildes war.

Später einmal, in fünfzig, hundert Jahren oder noch später, wird es in Luxemburg keinen Straßendreck mehr geben. Das heißt keinen von diesem gesunden Dreck, der da ist ein unmittelbares, gesundes Naturprodukt, ein mineralischer Brei aus reiner Erde, der mit Chemie und künstlicher Verunreinigung der Straßen nichts zu tun hat. Dieser Dreck wird gelebt haben. Sein Nachfolger wird der Kunstdreck der Großstadt sein, eine Mischung aus Kohlenstaub, Schmieröl, Benzin, Hunde-Exkrementen, zermalmten Apfelsinen und faulen Gemüseresten mit allerhand heimlichem Kehricht aus Müllkästen und Küchenfenstern. Unser Tiefbauamt hat längst das Aufbuddeln der Straßen nicht mehr bewältigen können und ist endlich dazu übergegangen, unterirdische, gewölbte Kanäle zu bauen, die alle Leitungen aufnehmen. Von dem dadurch ersparten Geld sind die neuesten Straßenkehrmaschinen angeschafft worden und die Sauberkeit in der Stadt ist musterhaft. Auf dem Wilhelmplatz steht vor dem Stadthaus ein Denkmal des Herrn Marcel Cahen mit der Inschrift: A Marcel Cahen, la Cité reconnaissante.

Da die Straßen nicht mehr aufgebuddelt zu werden brauchen, kann überall die Chaussee durch Makadam ersetzt werden. Luxemburg und Esch sind in eine einzige Stadt verschmolzen, in deren Mitte Leudelingen das ist, was heute der Paradeplatz für die Hauptstadt. Hin und her und kreuz und quer geht die Trambahn im Dreiminutenverkehr. Abends flimmert eine ununterbrochene Perlenkette von Lichtern von hier bis ins Herz der Erzmetropole, Mosel Ösling, Merscher- und Pratzertal Meß, Syr, Mamer, Eisch - alle Gegenden des Landes dränieren ihr Menschengut nach der Zentrale des internationalen Handels und Verkehrs, zu der sich die neue Großstadt entwickelt hat.

Und dann wirst Du Deinen Kindeskindern erzählen, wie schön es im alten Luxemburg war, als der Königsring noch die dreckigste Straße von Europa war, als Du kunstreich auf den Absätzen, mit himmelwärts gerichteten Fußspitzen und hochgezogenen Hosenbeinen über den Fahrdamm turntest und nebenan bei Brostus die Polizei noch keusch und väterlich die Tugend der Bürger vor Schaden bewahrte.

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