Die Jungen von heute, die um die letzte Jahrhundertwende noch keine Zeitungen lasen, wissen nichts von der Dreyfus Affäre, die von 1894 bis 1900 und noch eine Zeitlang nachher Frankreich und die ganze zivilisierte Welt in Aufregung hielt. Wer diese unerhörte Klitterung damals mit erlebte, konnte sich kaum denken, daß es noch einmal eine Zeit geben könnte, wo man sich über die „Affäre“ nicht aufregen würde. Sechs Jahre lang schlug man sich ihretwegen die Köpfe ein. Ich erinnere mich, wie der gute alte Herr Depoin, der kürzlich verstorben ist und damals während der Kammersession jeden Mittag hier im Grand Café seine Partie Schach machte, mir dort einmal vor allen Leuten den Kopf abreißen wollte, weil ich nicht an die Schuld des Dreyfus, des „Verräters“, glaubte. Man war im Handumdrehen auf Hauen und Stechen mit seinen besten Freunden. Der Graphokoge Varinard zum Beispiel, der gegen Dreyfus als Experte ausgesagt hatte, derselbe, der hier im Prozeß Belgrad zugezogen worden war, wurde eines Tages in dem Bade-Ort St. Maurice halb tot geschlagen, angeblich von den Dreysusards. Das Attentat gegen Labori, den Verteidiger Dreyfus’, war für die Antidreyfusards der Anlaß zu koprolaliftischen Pamphleten gegen das Opfer. Man macht sich heute keinen Begriff von der Leidenschestlichkeit der Parteinahme für und gegen Dreyfus.
Hauptmann Dreyfus war auf das sogenannte „Vorderau“ hin zur Deportation auf die Teufelsinsel verurteilt worden. Es handelte sich um ein Verzeichnis militärischer Geheimdokumente, die an Deutschland verkauft worden waren. Viele glaubten unentwegt an die Unschuld des Verbannten und agitierten für eine Wiederaufnahme des Prozesses. Es folgte der berühmte Brief Zolas „J’accuse“, infolge dessen Zola nach England flüchten mußte.
Am 7. Juli 1898 verlas der Kriegsminister Cavaignac in der französischen Kammer einen Brief, der angeblich von dem früheren deutschen Militärattaché Oberst von Schwartzkoppen an seinen italienischen Kollegen Panizzardi gerichtet sein sollte, und der, wenn er echt war, die Schuld Dreyfus’ erwiesen hätte.
Am 15. August 1898 wurde im Kriegsministerium der Brief als eine Fälschung des Oberst Henry, Chefs des französischen Kundschafterbüros nachgewiesen, Henry wurde verhaftet und schnitt sich in der Nacht zum 31. August auf der Festung des Mont-Valérien, wohin er verbracht worden war, mit seinem Rasiermesser die Gurgel entzwei.
Um dieselbe Zeit sprach Cassagnac in einem Brief an die „Autorité“ von einer Solidarität, in die sich der Generalstab blindlings verrannt habe, und Jaurès führte den Nachweis, daß das „Bordereau“, auf das hin Dreyfus verurteilt worden war, von der Hand des Kommandanten Esterhazy war, der mit Henry unter einer Decke spielte.
Es ist unmöglich, auch nur andeutungsweise von all den dramatischen Zwischenfällen der „Affäre“ zu reden, von der Verhaftung und Entlassung des Colonel Picquart, der später wieder zu Ehren kam und General wurde, von der Rolle Paty du Clams, des Generals Mercier der Graphologen und Kryptographen usw.
Jetzt erscheinen bei Heinemann, London, die Memoiren des früheren politischen Leiters der „Times“, M. W. Steed, der zur Zeit der „Affäre“ Korrespondent der „Times“ in Italien war, unter dem Titel „Trough thirty years“. Daraus geht hervor, daß Henry damals Selbstmord begangen hat, nicht weil er wegen eines gefälschten Briefes verhaftet worden war, sondern weil er für Deutschland die bezahlten Spionagedienste geleistet hatte, wegen welcher er den Verdacht auf Dreyfus abgeleukt hatte.
Es ist nichts so fein gesponnen ......