Original

12. Dezember 1924

Wer sein Ohr den Untertönen der Zeit zu leihen pflegt, stellt schon lange fest, daß parallel mit dem revolutionären Austrieb der Massen ein leiser Zug nach rückwärts geht, zu den versunkenen Schönheiten des alten Regimes. Das resignierte Bedauern geht nicht von denen aus, die durch die Revolution um ihre Schlösser, ihre Rechte und ihre Renten gekommen sind, sondern vielmehr von geistigen Feinschmeckern fortgeschrittenster Richtung, die elegisch von der Zeit vor 1789 als der Zeit der höchsten Lebenskunst und von den Menschen von damals als solchen reden, wie sie niemals wieder sein werden.

Und nun erleben wir, daß aus unserer Mitte Skeptiker aufstehen, die die Errungenschaften von 1789 und 1848 in den Wind schlagen und nach den Fesseln rufen, die vor Menschenaltern abgeschüttelt wurden. Oder hat etwa nicht vor wenigen Tagen in diesem Blatt jemand seinen Wunsch nach Einführung der Zensur verkündet, von deren Abschaffung unsere Großväter sich einbildeten, sie sei eine der schönsten Errungenschaften des Jahrhunderts?

Und das Merkwürdige: Der Ruf kam, von wo man ihn am wenigsten erwartet hätte. Wäre er aus einem reaktionären Schlupfwinkel erklungen, so hätte sich niemand gewundert. Aber nein, es war der Inhaber eines bekannten und vielbesuchten Theatersaals, der sein Bedauern darüber aussprach, daß wir keine Zensur haben.

Er tat es ganz sicher nicht aus rückschrittlicher Gesinnung, und sein Standpunkt muß daher zu denken geben. Es liegt nahe, daß er am eigenen Leibe Nachteile empfunden hat, die er dem Fehlen der Zensur zuschreibt.

Die Abschaffung der Zensur auf ewige Zeiten sollte verhindern, daß geistige Kundgebungen irgendwelcher Art im Keim erstickt würden, ohne daß ihnen Gelegenheit geboten wäre, an die Öffentlichkeit zu gelangen. Die Öffentlichkeit, das Volk sollte Richter sein. Fand sich hinterher die Behörde zum Einschreiten veranlaßt, so wußte die Öffentlichkeit, ob die Knebelung in ihrem Sinn zu Recht oder zu Unrecht geschah.

In dem speziellen Fall des Theatersaalbesitzers kann dieses Postnumerando-Veto der Behörde zu Mißbräuchen und großer Schädigung des Interessenten führen. Er hat zum Beispiel mit einer auswärtigen Truppe für eine Anzahl Vorstellungen abgeschlossen. Es handelt sich um ein Stück, das in Dutzenden von Städten des Auslands aufgeführt wurde, ohne die Polizei zum Einschreiten zu veranlassen. Unsere Staatsanwaltschaft aber läßt sich über die erste Aufführung berichten und überrascht den Direktor anderntags in aller Frühe mit einem Ausweisungsbefehl gegen die ganze Truppe.

Der Saatbesitzer hat für vier Vorstellungen bezahlt und verliert Tausende.

Kein Wunder, daß er nach einer Zensur ruft, die im voraus jedes Stück unter die Lupe nähme und es ihm schriftlich gäbe, daß es stubenrein ist, und er keine Ausweisung zu befürchten braucht.

Aber!

So wäre es der Behörde, in praxi irgendeinem Unterbeamten mit normalem oder über- oder unternormalem Sittlichkeitsgefühl in die Hand gegeben, dem Publikum das dramatische Futter darzuschneiden. Gewöhnlich ginge es natürlich so, daß der betreffende Zensor vorsichtshalber katholischer wäre, als der Papst, und keuscher, als die „Luxemburger Frau“, um sich dem Vorwurf der Laxheit, nicht auszusetzen. Es könnte aber auch sein, daß er in einer Anwandlung von lebemännischer Großzügigkeit allerlei durchließe, was einer strengeren Nachprüfung nicht standhielte, und die Strangulation bliebe also trotzdem nicht aus. Und schließlich täme es wieder so weit, daß wir neuerdings den alten Kampf um die Abschaffung der Zensur von vorne wieder anfangen müßten.

Überlassen wir doch ruhig dem Publikum die Zensur, die unseres Kulturgewissens würdig ist. Es lehnt auf die Dauer schon von selbst ab, was sein gesundes Sittlichkeitsempfinden verletzt.

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  • nostalgia: pre 1789
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