Original

13. Dezember 1924

Mit nichts auf der Welt wird soviel Unfug getrieben, wie mit dem Wörtchen immer.

Immer heißt ewig. Es bezeichnet die absolute Dauer, die Wiederholung ohne Ende.

Nun hören Sie jeden Tag jemand äußern: „Ich habe es schon immer gesagt,“ - wenn nämlich etwas eintrifft, was er niemals vorhergesehen hatte. Oder er kann es wirklich vielleicht einmal zufällig gesagt haben. Jetzt, wenn sich die Voraussage erfüllt, ist er stelz auf seine Prophetengabe, und er macht aus dem einen Mal immer.

Sie haben jemand gekannt, von dem Sie einmal einen witzigen Ausspruch hörten. Ein einziges Mal. Und doch sagen sie jedesmal, wenn Sie ihn zitieren: Der alte Herr Dingsda sagte immer: Der Mensch soll nicht sein wie ein Kuhschwanz.

Man denkt sich nichts dabei, jedenfalls nichts Böses. Es können aber auch Fälle eintreten, wo das „immer“ schon ein Tröpflein Gift enthält. Du, zum Beispiel, reizende Leserin, hast Du nicht einmal von Deinem Bruder Joseph einen Schubs bekommen und bist zur Mutter gelaufen und hast gejaunert: Mammo, unser Joß stößt mich immer!

Du hast genau gewußt: Wenn ich sage, er hat mich einmal gestoßen, so klingt das nach gar nichts. Ich muß den Wiederholungssall konstruieren, muß ihn als den unverbesserlichen Rezidivisten hinstellen, dessen unschuldiges, unablässig duldendes Opferlamm ich bin, dann bekommt er seine Senge, und ich bin gerächt.

Auch das ist noch relativ harmlos, weil es auf einen kleinen Kreis beschränkt bleibt und das Gift nicht um sich frißt.

Im großen Klatsch aber, der durch die Straßen, durch die Lande, durch die Welt geht, da spielt der Mißbrauch des Wörtchens „immer“ eine perfide Rolle. Es ist der harmlos aussehende Nachdruck, den der Klatsch seiner übeln Nachrede gibt. Und es ist allen Zungen so geläufig, daß es schon wirkt, wie ein Cliché.

Denken Sie sich zum Beispiel eine junge Frau, die eines Tages aus triftigen Gründen ihrem Manne weg zu ihren Eltern gelaufen und anderntags zu ihm zurückgekehrt ist. Warum soll eine junge Frau nicht einmal ihrem Manne fortlaufen? Jedes dritte Pariser Theaterstück enthält Situationen, in denen die Frau dem Manne fortläuft, fortzulaufen droht oder fortlaufen könnte, ohne daß jemand sie deshalb für eine schlechte Gattin und eine Verworfene hielte.

In dem Fall, den wir hier voraussetzen, hat sich die junge Frau mit ihrem Mann gezankt Gott weiß weshalb, weil er ihr den Hut nicht kaufen wollte, oder weil er einer Freundin um eine Nüance zu vertraut zugelächelt hat oder sogar aus wirklich ernsten Gründen. Kurzum, sie ist ihm an einem ganz bestimmten Tag zu einer ganz bestimmten Stunde für eine Nacht fortgelaufen.

Ihre beste Freundin hat eine andere beste Freundin, mit der sie über jene spricht. Oh, sie ist sehr lieb, ich habe sie sehr gern, wir sind sehr gut miteinander. - Ist es denn wahr, daß sie immer ihrem Mann nachts fortläuft? - Ja, man redet doch nicht gern über so was, nicht wahr. - Ach, die Ärmste. - Ihre Schuld ist es nicht, aber der Mann brutalisiert sie immer, - oder: er liegt immer mit andern Frauenzimmern zusammen, - oder: er ist immer nachts draußen, - oder: er kommt immer betrunken nachhaus. Und so weiter.

Und so machen sie mit dem Wörtlein immer, das sie achtlos einstreuen, aus einem einzigen, harmlosen, vielleicht vergessenen Vorfall, der sich längst in Wohlgefallen aufgelöst hat, eine ununterbrochene Reihe von Ehescheidungsgründen und malen sich und den andern ein glückliches oder doch jedenfalls nicht positiv unglückliches Leben als eine Hölle aus, daß ihnen beim bloßen Gedanken daran das Gruseln kommt.

Es ist nur gut, daß sie sich untereinander selbst nicht immer ernst nehmen und instinktiv jede das nötige Wasser in den Wein der andern tut.

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