Original

30. Dezember 1924

Unser ältester Musikant ist heute J. A. Müller.

Jawohl, Musikant. Nicht Musiker. Der Musiker ist das Fabrikerzeugnis. Mit Fleiß, Zeit und Geld könnte schließlich jeder ein Musiker werden und Stücke komponieren in der Art, wo man grade hat.

Der Musikant aber ist der Mann, der musiziert, weil er nicht anders kann, und weil ihm das Musizieren notwendig ist, weil er es ererbt hat, wie die Farbe seiner Augen und die Form seiner Nase, weil es ihm Lebensbedingung ist, wie das Atmen.

Und der älteste Musikant ist J. A. Müller auch, trotzdem er der jüngsten einer ist.

Sie werden es als eine extravagante Behauptung meinerseits beachselzucken, wenn ich sage, J. A. Müller sei über sechzig, ja, den siebzig näher schon als den sechzig. Wenn ich erzähle, wie er schon vor circa vierzig Jahren in das Straßenbild von Luxemburg gehörte, ein frischer, elastischer, rotwangiger junger Mann, der seine braune Mähne zurückwarf, daß sie in der Sonne blinkte, nach dem die Mädchen sich umdrehten und der doch schon angefangen hatte, der zahlreiche Familienvater zu sein, als der er auf unserer Bürgermeisterei im Buche des Lebens steht.

Er war selber wie ein Instrument, auf dem das Leben Musik machte. Er erklang von Musik und sederte von Rhythmus. Was er anfaßte, wurde zu Musik. Er spielte Geige und Klavier, er schmetterte Piston, er sang Tenor und er jodelte, daß es nachts durch die Straßen und über die Dächer schallte.

Er hat im Verlauf seines langen Musikantenlebens allerhand erlebt und allerhand Triumphe gefeiert, als Dirigent und als Komponist. Er hat in allerhand Vereinen den Taktstock geschwungen, hat zwischendurch in Köln studiert, im Ausland mit seinen Sängern Siegespalmen davongetragen, zu St. Michael die Orgel gespielt und abends Proben geleitet, in denen aller Respekt für die Kirche hintangesetzt war. Er war immer nur der reine Musikant.

Wer ihn nicht kannte und am Sonntag im Metropol-Hotel am Dirigentenpult sah, wird mir wiederum sein Alter nicht glauben. Er war immer noch derselbe, wallende Locken, Leben bis in die Fingerspitzen, Beherrschung seines Chors wie einer Armee vor und in der Schlacht. Und wieder wurde er gefeiert und erlebte Genugtuung als Dirigent, als Komponist und als Vater. Im Saal saß der eine oder andre, dem es weich ums Herz werden mochte, als von der Bühne die Lieder erklangen, die er vor vierzig Jahren vielleicht selber mitgeübt und mitgesungen hatte: „Wenn der Vogel naschen will - Pflegt er nicht zu singen,“ oder: „Der Frater Kellermeister“. Das war im großen Saal des alten Hotels zum Roten Kreuz bei Duchangs Dominik oder im Festsaal des Louvigny oder im alten Cercle beim Gretchen. Und vor den Sängern, von denen schon so viele, viele den Mund auf ewig geschlossen - wenn sie nicht in den himmlischen Chören eine Stimme mitsingen -, da stand dieser selbe Mann, der auch am Sonntag abend im Metropole da stand und mit beiden Händen aus der Klangmasse herauszog, was er wollte, wie ein Zauberer Papierserpentinen aus einem Zylinderhut.

J. A. Müller war der erste, der dazumal um die 1885 herum, diese Art Lieder populär machte. Eines war dabei: „O Winter, schlimmer Winter - Wie ist die Welt so klein!“ Und ein anderes: „Wißt Ihr, wo ich gerne weil’!“ Und die altniederländischen Volkslieder: Bergen Opzoom, und Wilhelmus von Rassauen und andere schöne alte Weisen, für die Wilhelm der Letzte schwärmte, lange bevor er an Schloß Doorn dachte.

Das Rote Kreuz ist verschwunden und der Festsaal des Louvigny und der alte Cercle und das Gretchen und Wilhelm der Letzte - aber der J. A. Müller geht noch durch die Stadt wie vor vierzig Jahren und schlägt dem Leben ein Schnippchen, wie es ihm schon so viele geschlagen hat.

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KatalognummerBW-AK-012-2804