Original

1. Januar 1925

Wenn in Luxemburg behauptet wird, der neue Eisenbahnvertrag sichere Belgien den Löwenanteil der zu erzielenden Vorteile, so werden sich selbstverständlich drüben Stimmen finden, die das Umgekehrte behaupten und fragen werden: Warum schreit Ihr Luxemburger Euch die Lunge aus dem Leib, wenn für uns so wenig Wolle dabei abfällt! Jeder sieht die Sache eben von seinem Standpunkt und betrachtet die Kulissen des Lebens von der unbemalten Seite, um sich von keiner Illusion betören zu lassen.

Eines ist an diesen Eisenbahndebatten mit inniger Genugtuung zu begrüßen: daß sie unsere Liebe zur. Unabhängigkeit, Freiheit, Autonomie, zu unserm souveränen nationalen Selbstbestimmungsrecht so energisch, so trotzig betonten, offensichtlich unter der einstimmigen Villigung des Hauses.

Wir haben also gesehen, daß die Besten des Volkes, die Quintessenz der öffentlichen Meinung, der Extrakt des echtesten Luxemburgertums - daß unsere Abgeordneten sich lieber totschlagen ließen, als daß sie unsere Unabhängigkeit preisgäben.

Man kann das nicht oft und nicht laut genug betonen.

Kurz nach dem Krieg wehte ein andrer Wind im Land. Erinnern Sie sich, bitte: Sie hatten kaum noch Finger genug an beiden Händen, um daran aus Ihrem Bekanntenkreis die Luxemburger aufzuzählen, die nicht einmal ein Linsenmus verlangt hätten, um dafür ihre Unabhängigkeits preiszugeben. Aus allen Schichten der Bevölkerung wurden Stimmen laut - mehr oder weniger laut -, die da verkündeten, wir seien als selbständiges Land ein lächerlicher Anachronismus, wir haben keine Daseinsberechtigung, wir ersticken an Inzucht und gehen an geistiger Engbrüstigkeit zugrund usw. usw., und wir müssen unbedingt in einem größeren Ganzen aufgehen.

Das war unmittelbar nach dem Krieg, in dem zwei Drittel Dutzend größerer Ganzer derart Haare gelassen hatten, daß die kahlen Strecken heute noch nicht wieder bewachsen sind.

Heute ist der Wind wieder umgeschlagen. Man kann sich Paul Eyschen in den Gefilden der Seligen vorstellen. Er hatte schon Jahre lang vor dem Krieg das Unheil kommen sehen und sich immer gegen den Glauben daran gestemmt. Er wagte nie zu hoffen, daß aus einem europäischen Kladderadatsch sein Vaterländchen heil und ganz hervorgehen könnte. Und nun bleibt er auf einmal beim Spaziergang auf der Asphodeloswiese stehen, legt die Hand ans Ohr und lauscht den Reden, die aus der luxemburger Kammer zu ihm hindringen. Er hört in vibrierenden Brusttönen die Zauberworte Unabhängigkeit, Freiheit, Selbständigkeit, nationale Souveränität erschallen, und er nickt beifällig und sagt zu seiner Begleiterin: „Ich möchte wohl wieder ein Weilchen mit dabei sein. Sie haben es droben mit der Unabhängigkeit heute leichter, als zur Zeit, wo Berlin der Nabel der Welt war.“

Das bildet er sich vielleicht nur so ein. In jedem Fall hat diese Eisenbahndebatte wieder einmal den Beweis erbracht, daß wir in der Zeitung recht hatten, als wir bei Gelegenheit des Zollvertrags mit Belgien sagten, ein Zollvertreg sei keineswegs die erste Etappe zu einer Absorption des Kleineren durch den Größeren, im Gegenteil, der Kleinere werde dann nur um so eifersüchtiger und wachsamer auf seine Unabhängigkeit aufpassen.

Simon im „Gukuk“ würde das möglicherweise so darstellen: Ein erwachsener Mann hat einen kleinen Jungen bei der Hand gefaßt und will ihn näher, ganz nahe an sich heranziehen. Der Junge stemmt sich mit beiden Beinen gegen den Zug, und je fester der andere zieht, desto trotziger stemmt sich der Junge hintenüber.

Wenn Simon im „Gukuk“ ein bösartiger Mensch wäre, zeichnete er ein anderes Bild: Der Große läßt den Kleinen plötzlich fahren und der Kleine schlägt hintenüber in den Dreck.

Wenn er nicht von einem Dritten aufgefangen wird, der höhnisch grinsend im Hintergrund steht und seine Stunde erwartet.

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KatalognummerBW-AK-013-2806