Sehr geehrter Herr Tramwaydirektor!
Sie wissen im voraus, daß man Ihnen aus dem Publikum nicht schreibt, um Ihnen ein Vergnügen zu bereiten, um Sie zu loben und die Vorzüglichkeit Ihres Betriebes zu preisen. Und Sie erwarten von mir nicht, daß ich eine Ausnahme mache.
Was das Publikum an Ihren Fahrplänen auszusetzen hat, stand schon öfters in den Zeitungen aller politischen Parteien und Parteischattierungen. Sie können sich rühmen, ein Terrain geschaffen zu haben, auf dem sich Wolf und Lamm, Löwe und Gazelle, Wasser und Feuer in Frieden begegnen. Aber ich will mich nicht unter die Löwen und Lämmer mischen, ich gebe zu, daß ich vom Fahrplanwesen, von der Verzwicktheit der allerhand Anschlußnotwendigkeiten nicht mehr verstehe als Sie und die andern, die immer über Sie herfallen. Nur daß sie mir recht zu haben scheinen, wenn sie es sonderbar finden, daß in einem Abstand von zwei Minuten zwei oder drei Wagen fahren und dann wieder eine Viertelstunde lang keiner. Wir haben es also noch nicht zu einem regelmäßigen - mehr oder weniger regelmäßigen x-Minutenverkehr gebracht, aber Sie müssen ja besser wissen, ob das möglich oder durch allerhand Umstände ausgeschlossen ist.
Dahingegen meine ich, es wäre sehr leicht durchführbar gewesen, daß man an den Wagen wirkliche Nummernschilder angebracht hätte, wie sie sonst überall eingeführt sind. Nicht die mikroskopischen Nümmerchen, die Sie auf die Stirnseite Ihrer Wagen haben malen lassen, sondern große, runde Schilder mit halbarmlangen Ziffern, die jedermann vom Victoria-House bis zur Ecke von Conrots lesen könnte. Die Namen der Hauptstationen malen sie sonstwo an die Längsseite der Wagen. Wahrscheinlich, weil sie das als praktisch herausgefunden haben. Hier dauern die Experimente noch an. Aber hoffentlich kommt der Tag, wo auch wir uns zur selben Erkenntnis, wie die andern Großstädte durchgerungen haben.
Ich hätte noch ein anderes Hühnchen mit Ihnen zu rupfen, Herr Direktor. In aller Freundschaft, natürlich.
Denken Sie sich in folgende Lage:
Sie wollen an die Bahn zu einem Zug, der sagen wir mal um 10.44 vormittags abfährt. Sie haben irgendwo auf der Strecke dringend zu tun, müssen einfach da sein.
Sie stehen an der Post und warten auf eine Tram. Es ist ein Viertel nach zehn. Sie haben massenhaft Zeit. Aber Sie wollen sich am Bahnhof noch Reiselektüre kaufen, vielleicht auch im Büffet noch einen Kognak trinken. Aber das ist fakultativ.
Sie warten und warten. Kein Wagen kommt. Jetzt ist genau die Zeit, wo Sie, wenn Sie die Hoffnung auf einen Wagen aufgäben, den Weg nach dem Bahnhos unter die Füße nehmen müßten. Aber da kommt ganz unten am Ende der Monterey-Avenue ein Wagen daher. Aha! Endlich Verbindung an die Bahn.
„Fahren Sie so herum nach dem Bahnhof?“
„Jawohl.“
„Über die Neue Brücke?“
„Jawohl.“
Sie vertrauen dem Wort des Schaffners, springen auf, pfeifend nimmt der Wagen die Kurve, aber nicht rechts, sondern links, auf die Großstraße zu.
„Wann sind Sie am Bahnhof.“
„Um 10.45.“
Fluchend springen Sie ab und wollen nun sporenstreichs zur Bahn laufen.
Da, Gott sei Dank! ein anderer Wagen: Neue Brücke, Bahnhof.
Es wird grade noch langen, sagt der Wattman, wenn er stramm zufährt. Und wenn uns der Grüne nicht in die Quere kommt.
Natürlich sind wir kaum am Brückenkopf, da kommt der Grüne. Sein Fahrer grinst uns höhnisch an. Wir müssen zurück. Der Anschluß ist endgültig verpaßt. Sie müssen unbedingt da sein. In Petingen zum Beispiel. Der Zug ist grade heute auf die Minute abgefahren. Sie kommen um eine Minute zu spät, springen in ein Auto: Chauffeur, nach Petingen! Sechzig Franken!
Ja, was da zu machen ist, meinen Sie? Höhere Gewalt. Eine Frau im Wagen plötzlich gestorben, ein Baum über die Schienen geweht, Verwirrung im Betrieb, Verspätungen usw.
In diesem Fall, Herr Direktor, würde ich im Prinzip annehmen, daß der Wagen, der im Angesicht des Bahnhofs einem andern begegnet, der vom Bahnhof kommt, immer das Recht hat, durchzufahren, weil er in der Regel Passagiere führt, die einen Zug erreichen wollen. Denn nicht wahr, an die Bahn fährt man doch sehr häufig, um den Zug zu benutzen. Die Reisenden nach der Stadt haben es nicht so eilig, und die Strecke ist so lang, daß eine kleine Verzögerung eingefahren werden kann, wenn so ein Wagen einmal zurückfahren mußte.
Tun Sie das, Herr Direktor. Nicht meinetwegen, Gott bewahre. Wenn ich einen Zug sicher erreichen will, gehe ich immer zu Fuß.
Ergebenst
Ihr Grimberger.