Eine einfache Ansichtskarte kann ein Kulturdokument sein. Die in diesem Augenblick vor mir liegt, ist es sicher. Über der Inschrift: „The oldest auto passing first the New Bridge of Luxxembourg“ sieht man am diesseitigen Brückenkopf, wo noch Arbeiter am Trottoirbau beschäftigt sind, eines der ältesten Automobilmodelle. Es ist eine Art Jogdwagen, Viersitzer, auf hohen Rädern, in allen Teilen nach den Begriffen von Eleganz gebaut, die auf die alten Pferdeequipagen angewandt wurden. Man hatte sich von diesem Vorbild noch nicht losmachen können, das Wesen des neuen Beförderungsmittels war noch niemand mit all seinen unausdenkbaren Entwicklungs- u. Leistungsmöglichkeiten aufgegangen. Die ersten Autos hießen im Volksmund Wagen ohne Pferd, und das Exemplar, das auf der erwähnten Postkarte abkonterfeit ist, sieht tatsächlich und buchstäblich aus, wie ein Wagen ohne Pferde. Es wirkt, als ob die Gäule mit der Deichsel davongelaufen wären und den Wagen hätten stehen lassen. Nichts daran verrät die Zweckmäßigkeiten eines Werkzeugs, das auf höchste Schnelligkeit gerichtet ist. Dieser Wagen weiß, daß er an und für sich mit Bewegung und Geschwindigkeit nichts zu tun hat. Die Vor- stellung dieser Dinge hängt ausschließlich mit den ausholenden Pferden zusammen, deren Mähnen fliegen und deren Beine den Raum hinter sich stampfen. Fehlen die Pferde, so steht das Anhängsel still. Dementsprechend sehen die Insassen höchst unbefangen und gutmütig drein. Auf dem Rücksitz thront der seinerzeit stadtbekannte Kleens Jampier, der Besitzer der Villa Louvigny, neben ihm der Chauffeur Lichtblau, der seinem Herrn nicht in die Garage der Ewigkeit gefolgt ist. Zwei Unbekannte hocken höchst unbequem auf dem Vordersitz, mit dem Rücken nach der Fahrtrichtung.
Wir haben heute gut lachen und sagen, alles an dieser alten Karre sei häßlich und zweckwidrig; damals verwirklichte sie ein Ideal von modernem Wagenbau, sonst wäre sie nicht so gebaut worden. Damals waren hohe Räder mit dünnen Speichen und Reifen das Auserlesenste, was es gab. Heute wird an den Fordwagen der hohe Bau als bedauerlicher Schönheitsfehler empfunden. Eine elegante Kutsche mußte in allen Teilen so leicht wie möglich sein, denn man dachte an die Pferde, die sie ziehen mußten und denen man kein unnützes Totgewicht aufladen wollte. Heute ist die Kraftquelle unermüdlich, solange das Benzin sickert, und darum verkörpert sich im Auto die Idee des trotzigen Durchhaltens, der eleganten Brutalität, die ein Stück vom Geist unserer Zeit ist. Die Radreifen sind beindick, die Räder kaum höher, als ein moderner Damenregenschirm, die Sitze sind Klubsessel, alles ist protzig massiv, aber die Linie! Beim Auto ist die Linie mindestens ebenso wichtig, wie bei einer Frau. Sie hat das Werk eines Künstlers zu sein, um mitreden zu können. Im Bau eines Autos kommt oft mehr Geschmack zum Ausdruck, als im Bau eines Königsschlosses. Die Autolinie ist die Linie der Zeit.
Sind wir denn wirklich schon so weit von der Zeit, wo das alte Auto auf jener Karte nicht wirkte, wie es heute auf uns wirkt, wie ein Fötus neben einem Apollo?