Original

13. Januar 1925

Ich sah ihn von weitem im Park sich zu dem kleinen Mädel mit den blauen Augen, das auf unbeholfenen Beinchen über den Weg wackelte, niederbeugen, es unter die Armchen fassen, zu sich emporschwingen und ihm rechts und links einen herzhaften Kuß aufknallen. Die Kleine strampelte dazu und jauchzte und schlang ihm die Arme um den Kopf und wollte nicht wieder herunter.

Als ich ihn kurz darnach einholte, redete ich ihn an:

„Ich wußte nicht, Herr Präsident, daß Sie Großvater sind.“

„Was läßt Sie annehmen, daß ich Großvater bin? Ich denke nicht daran. Es ist keine der wesentlichen Bedingungen dafür erfüllt.“

„So so. Ich dachte, die Kleine, die Sie vorhin so zärtlich abküßten, sei Ihre Enkelin.“

„Aha, die kleine Nora! Sie sahen mich? Ich verfichere Ihnen, ich weiß von ihr nur, daß sie Nora heißt. Wir begegnen uns jeden Tag hier herum um dieselbe Stunde. Es fing an mit einem freundlichen Blick, ein Patschhändchen folgte, und jetzt sind wir auf dem Kußsuß.“

„Das ist doch alles Mögliche, Herr Präsident, daß Sie hier unter freiem Himmel vor allen Leuten wildfremde Kinder abküssen.“

„Mein lieber Herr, ich will Ihnen was sagen. Wenn Sie einmal in mein Alter kommen und haben keine eigenen Enkel, so werden Sie sich in fremde verlieben. Das ist der natürliche Ablauf der Gefühle. Ich bin eben im Stadium der Großvaterliebe. Es ist ein Johannistrieb in seiner Art.

Sehen Sie, lieber Herr, alle Liebe, die nicht Geschlechtsliebe ist, geht im Aufbau der Jahre nach unten, nie seitwärts oder nach oben: Geschwisterliebe oder was wir so nennen, ist im Grunde nur ein mehr oder weniger starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die Liebe zu den Eltern besteht aus Gewöhnung, Dank und Pskichtgefühl, wenn sie besteht. Es ist wiederum keine rechte Liebe. Im Verhältnis von Eltern zu Kindern geht die wahre Liebe, der Ausopferung nicht Pflicht, sondern Genuß ist, immer nur nach unten, von den Eltern zu den Kindern.

Und hier kann man wieder von wahrer Liebe reden, denn sie ist ein Korollar der Geschlechtsliebe. Diese ohne jene wäre unvollkommen, wie die Zeugung zwecklos wäre, wenn nicht der Erhaltungstrieb sie ergänzte.

Dieser ist der Hauptbestandteil der Liebe zum Kind. Darum ist diese Liebe mit Sorge und Verantwortungsgefühl oft bitter versetzt. Der Vater liebt den Sohn, aber in ihm eigentlich nur sich selbst, sein wiedergeborenes Ich, über das er jedoch nur bedingte Gewalt hat. Er will es gern über sich hinauswachsen lassen, hält ihm die Schulter hin, daß es darauf stehe, um nach höherem und besserem Schicksal zu greifen, aber wächst es unter sich, so wird die Liebe zur Quelle der schlimmsten Qual.

Und nun kommt die Großvaterliebe. Bei ihr sind diese weisen Hemmungen sozusagen ganz ausgeschaltet. Sie ist ohne große Sorge und ohne Verantwortungsgefühl. Nur Zärtlichkeit, nur Freude am keimenden Leben. Die Großeltern lieben die Kinder ihrer Kinder wie die rosige Morgenröte neuer Tage, die schöner sein werden, als ihre Tage waren. Das junge Menschtum, das unter ihnen sproßt, ist nur wie ein süßer Widerhall ohne Mißton. Und diese Instinktliebe ist so tief und so natürlich, daß sie über den Rahmen der Familie hinaus wirkt und daß ein alter Herr, wie ich, und wie Sie, wenn Sie einmal in mein Alter kommen, an keinem Kind vorbeigehen kann, ohne ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit und Anbändelung.

Freilich. hübsch und gesund und sauber müssen die Gören sein, denn der zärtlichste Großvater wird nie gerne Nasen putzen.“

TAGS
  • on family
KatalognummerBW-AK-013-2814