Ein Hüttenarbeiter aus Esch schreibt mir:
Lieber Kalendermann! Du wirst mir verzeihen, daß ich Dich duze, aber wir beide haben genau dasselbe Alter und Gewicht und dieselbe Größe. Wir sind beide Natur- und Musikfreunde. Aber nun zum Geschäft.
Erstens, herzlichen Dank für das schöne Volkslied „Zu Arel ob der Knippchen“. Wie so viele andere kannte ich nur die erste Strophe. Jetzt singe ich mit den Kindern das ganze Lied von a bis z. Das ganze Haus singt mit. Es ist ein schönes Lied. Aber wie heißt der Verfasser, bitte? (Der Verfasser heißt jedenfalls Volk, wie bei allen Volksliedern.)
Zweitens: Es wäre Dir ein Leichtes, bei Gelegenheit das Gespräch auf die abscheulichen Hüttensirenen zu bringen, welche, besonders früh morgens, Erinnerungen in uns wecken, die wir lieber vergessen wollten. Wie wäre es, wenn irgendein sonores Musilinstrument an deren Stelle träte? Zum Beispiel eine Posaune oder ein Bombardon, die automatisch funktionierten, wie eine Weckeruhr. Dieser automatische Musikant würde die Arbeiter früh wecken mit Weisen aus den „Dragons de Villars“, erster Weckruf. Zweiter Weckruf: Solo aus „Norma“ oder „Martha“. Zum Antreten an die Arbeit: „Sambre et Meuse“ oder Soldatenchor aus „Faust“.
Herzliche Grüße und nichts für ungut. - Unterschrift unleserlich, - Hüttenarbeiter Esch.
Ich kenne diesen liebenswürdigen Korrespondenten nicht. Es war jedenfalls diskret von ihm, unser gemeinsames Alter und Gewicht nicht zu verraten.
Ich vermute, daß er in einer Escher Musikgesellschaft ein Baßinstrument bläst, vielleicht gar bei festlichen Gelegenheiten die Soli pustet, die er oben als Weckruse vorschlägt. Mithin ist er ein gemütlicher, sympahischer Mensch, wie alle, die Baßinstrumente blasen und streichen. Der Baß ist der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht, er ist wie der Mann, der bei den Turnerpyramiden den andern die Schultern hinhält, damit sie sich auf ihm aufbauen. Er ist gutmütig, wie alle Starken. Nichts von der fahrigen Aufgeregtheit der Oberstimmen, die sich nervös vordrängen und Anfälle bekommen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Von so einem kann man sich mühelos vorstellen, daß er mit Genuß das Lied von den Areler Weibern vor sich hinsummt.
Sein Vorschlag, die Hüttensirenen durch ein Posaunen- oder Bombardonsignal zu ersetzen, wäre im Prinzip zu billigen. Wir haben hier wieder einen der Fälle, die beweisen, wie die Kirche so klug der Weltlichkeit die Trümpfe aus der Hand zu nehmen weiß, Sie hat für ihren Gottesdienst und ihre Feste keine Sirene, um die Gläubigen herbeizurufen, sie hat die Glocken, die mit freundlichem oder feierlichem Klang die Herzen rühren und bis ins hohe Alter zu den süßesten Erinnerungen zählen. Sie hat sich der Glocken sozusagen als eines Monopols bemächtigt. Stellen Sie sich umgekehrt vor, wie es wirken würde, wenn die Christenheit zur Weihnachts- oder Ostermette durch eine keifende Sirene herbeigepfiffen würde, wenn für die Toten nicht mehr die Glocken klagten, sondern die Sirenen vom Kirchturm heulten! Und was daraus für peinliche Erinnerungen würden!
Mein Alters-, Gewichts- und Längegenosse hat recht. Wenn die Hüttenwerke keine Glocken statt der Sirenen einführen wollen oder dürfen, dann lieber klangschöne Blasinstrumente. Aber dann müßte unbedingt dafür gesorgt werden, daß sie richtig blasen und nicht falsch, wie zum Beispiel der posaunenbeflissene Jüngling, der manchmal an stillen Sonntagnachmittagen die Luft in unserer weiten Nachbarschaft mit Noten füllt, bei denen sich unsere sämtlichen Nationalkomponisten schaudernd im Grab herumdrehen müssen.