„Marville, Gem. in Frankr., Dep. Meuse, Arr. u. Ct. Montmédy, am Othain, 940 Ew., P. T. Zollamt, Getreide- u. Walkmühlen, Sämischgerberei, Nadelfabr.“
Wer diese sachlichen Angaben im Lexikon liest, ahnt natürlich nicht, was sich dahinter verbirgt.
Marville ist ein Traum, ein elegisch verklingender Traum von Mittelalter, vergangener Blüte, Zeiten, die wir nicht mehr verstehen.
„Du mußt unbedingt einmal mit nach Marville fahren,“ sagte ein Freund, der das Schöne, dem er im Leben begegnet, nicht gerne für sich allein behält. Er sagte es so oft, bis es wahr wurde. Und in seinem Sinn soll der herrliche Tag des Ausflugs nach Marville nicht in unsrer Erinnerung verwelken.
Denn Marville ist wert, daß man Reklame dafür macht.
„La ville espagnole“ heißt der Ort in der Umgebung, sagte mein Freund. Und der Name stamme von Martis Villa, einer strategischen Niederlassung der Römer.
Ich muß ihm hier den Schmerz einer doppelten Enttäuschung bereiten. Der römische Ursprung des Ortes ist durch keinen einzigen Fund aus der Römerzeit belegt, und Marville war nie eine spanische Stadt in dem Sinn, daß dort Spanier dauernd in größerer Anzahl gelebt und gewirkt hätten. Sondern zur Zeit seiner höchsten Blüte war Marville luxemburgisch. Dadurch wird die Enttäuschung patriotisch gemildert.
Das älteste Dokument für die Geschichte der Stadt ist eine Urkunde aus dem siebenten Jahrhundert, wonach Marville damals im Besitz eines reichen, fränkischen Adeligen namens Audoenus war, der seine Besitzungen Marville und Failly der Abtei Rebais schenkte.
Erst mit dem ausgehenden zwölften Jahrhundert setzen die Quellenberichte wieder ein und lassen erkennen, daß sich damals die Grafen von Bar als die Herren von Marville betrachteten. Durch einen Rattenkönig von Heiraten und Mitgiften kam Marville über Ermesinde, Gemahlin des Grafen Thibaut von Bar, an Luxemburg und wurde in alle Händel zwischen den Grafen von Luxemburg und Bar verwickelt. Es besteht u. a. eine gemeinsame Urkunde aus dem Jahr 1346, in der Johann der Blinde und Graf Heinrich von Bar genaue Bestimmungen über die Errichtung einer Stadtmiliz von 25 Bogenschützen erlassen.
Später kam Marville nach allerhand Wirrungen an die Herzöge von Burgund und Ende des 15. Jahrhunderts durch die Heirat Philipp des Schönen mit Johanna von Kastilien unter spanische Herrschaft. Im Pyrenäischen Frieden 1659 wurde es mit dem ganzen südlichen Teil des Herzogtums Luxemburg, mit Diedenhofen, Montmédy, Carignan, Damvillers usw. an Frankreich abgetreten.
Die Bautätigkeit, deren Überreste noch heute Marville zu einem der merkwürdigsten alten Rester auf hundert Kilometer im Umkreis machen, hatte schon kurz vor der spanischen Herrschaft eingesetzt. In dem äußerst gediegenen Sammelwerk „Kunstdenkmäler zwischen Maas und Mosel - München 1921, F. Bruckmann A.-G.“ schreibt Wilhelm Ewald in einer Monographie über Marville u. a.: „Gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts entfaltete sich in Marville eine überaus eifrige Bautätigkeit, die wohl als ein sicheres Zeichen für einen ungestörten Frieden und einen wachsenden Wohlstand der Bevölkerung gelten kann. Diese Baulust hielt auch noch während der Regierungszeit Kaiser Karls V. (1506-1555) an. In dieser Epoche entstanden neben den Anbauten der Pfarrkirche (die aus dem Jahre 1227 datiert) die Kapelle zur Ste. Catherine im Schloß, ein großer Teil der Friedhofsanlagen von St. Hilaire (auf einer Anhöhe neben Marville) sowie mehrere prächtige Häuser reicher Kaufleute und einflußreicher Beamten der Stadt. Der Wohlstand des Ortes gründete sich anscheinend auf einen regen Handel und die Herstellung von Tuchen und Leder. Die schön gewölbten und großen Keller, die man noch bei vielen alten Häusern antrifft, sind ohne Zweifel im Interesse dieser beiden Haupterwerbszweige der Stadt angelegt worden.“
Ewald berichtet von einer zweiten Epoche bemerkenswerter Bautätigkeit, die sich in Marville in den ersten Dezennien des 17. Jahrhunderts entfaltete. Viele der heute noch erhaltenen hübschen Wohnhäuser datieren aus jener Epoche.
Was alles über Marville, auch in der denkbar kürzesten Form zu sagen wäre, würde den Rahmen dieser Rubrik sprengen. Die erwähnte Monographie von Ewald teilt in erschöpfender Weise alles Wissenswerte mit und ist durch zahlreiche vortreffliche Illustrationen erläutert. Über das Beinhaus auf dem alten Friedhof, über dessen Schädelmauern die Besucher sich am meisten die Köpfe zerbrechen, heißt es u. a.: „Dieser Karner entstand um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts und diente lediglich dazu, die bei der Wiederbenutzung alter Gräber sich vorfindenden Schädel und Gebeine unterzubringen.“
Der Verfasser geht diskret über die Tatsache hinweg, daß über der Eingangstür eines herrschaftlichen Wohnhauses am Südende des Dorfes, von dessen Fenstern man einen schönen Ausblick über das Tal des Othain und die weiteren Höhenzüge genießt, eine Krone mit W. II. und darunter die Inschrift eingemeißelt ist: „Kaiser-Haus, 1-2 IX 1914“, als Erinnerung daran, daß Wilhelm II. die Nacht vom 1. auf den 2. September dort zugebracht hat. Es war ein fein ironischer Zug, daß der Hausbesitzer dieses Denkmal eines hanebüchenen Byzantinismus nicht wegmeißeln ließ.
Geht nach Marville, das heute zu einem nicht sehr saubern Bauerndorf geworden ist, in dem die prachtvolle spätgotische Kirche und die aus dem Lot gehenden alten Häuser wie verwunschene Königskinder aussehen - erlebt die seltsamen Eindrücke dieser Umgebung, die einen herrlichen Rahmen für einen verträumten Roman abgäbe - aber bildet Euch nicht ein, daß Ihr dort etwas zu essen bekommt, außer einem Trumm Brot zu einem Mirabellenschnaps. Aber wenn Ihr vom vielen Schauen und Herumwandern hungrig geworden seid, so geht zurück an die Bahnstation Charency-Vezin, von der Ihr morgens gekommen seid, und eßt im Café de la Paix bei Niclot zu Mittag. Die junge Frau Niclot wird Euch, mit all ihren weißen Zähnen lachend, auf der Türe empfangen, und wenn Ihr bei ihrem Anblick nicht versteht, - beim Anblick ihrer schwarzbraunen Augen, die Frohsinn spritzen, und ihrer dito Lockenpracht, die das Gesicht einer Andalusierin einrahmt - wenn Ihr dann noch nicht versteht, warum meinem Freund das alte Marville und die ganze Umgegend in spanischem Licht erscheinen, so habt Ihr kein Herz im Leib. Abgesehen davon sind Gibelotte und Poulet und Burgunder und alles Folgende bei Frau Niclot so vorzüglich und so billig, daß der Schweigsamste davon zum feurigen Nedner und der seierlichste Würdenträger zum bacchantischen Solotänzer werden kann.