Original

30. Januar 1925

Nochmals Marville.

Die Erinnerungen an Märcheneindrücke, wie diese, lassen einen so bald nicht los. Sie verlangen ein ganz besonderes Fach für sich. Oder wo wollen Sie sonst zum Beispiel die Vision dieser einsamen Straße unterbringen, die im jungen, ganz jungen JanuarSonntagsnachmittegs-Sonnenschein da liegt, lautlos, mit ihren Hausteinfassädchen in erlesenen, diskreten Renaissanceformen und davor Misthaufen, aus denen Jauchequellen entspringen und beschaulich den Straßenrand entlang rinnen. Die Fenster mit Vorhängen, aber dahinter und in weiter Runde alles wie ausgestorben, nur ein altes Mütterlein steht plötzlich im Ausschnitt einer Haustüre aus dem 16. oder 17. Jahrhundert und reibt sich die Augen und sieht verwundert den fremden Männern nach, die begeistert nach recht und links deuten und dazu eine barbarische Sprache reden, die sie nicht versteht. Wer sich mit Wehmut die Bevölkerungsnot Frankreichs zum Bewußtsein bringen will, gehe an einem Sonntag Nachmitrag nach Marville.

Andres Bild: Wir beginnen den Aufstieg nach dem Kirchhof auf der Anhöhe neden dem Ort. Oben liegt ein altes, dem hl. Hilarius geweihtes Kapellchen, das im frühen Mittelalter der ganzen Umgegend als Pfarrkirche diente. Vor uns den Berg hinauf humpelt eine Alte in ausgetretenen Schuhen; die Strümpfe, an den Fersen durchlöchert, lassen eine Haut sehen, die kaum heller schimmert, als die schmutzig graue Wolle der Strümpfe. Der bekleckste Rocksaum klatscht feucht und schwer an die dünnen Knöchel. Wenn sie sich umdreht, zeigt sie ein Gesicht, in dessen Runzeln sich Staub und Schmutz von Jahrzehnten festgesetzt haben. Und in schreiendem Gegensatz zu diesem wandelnden Häufchen Unsauberkeit steht eine junge weiße Ziege, deren Fell wie frisch gewaschen schimmert. Die Ziege hält sich ihrer Herrin dicht auf, als erwarte sie von ihr den einzigen Schutz gegen alle Fährnisse des Lebens. Die Alte, die uns offenbar für Landsleute des Herrn aus dem Kaiserhaus hält, winkt uns aufmunternd zu: Wir werden Kameraden oben finden, näselt sie grinsend und humpelt in kleinen, beflissenen Schritten weiter den Pfad hinan.

Die Kameraden, die sie meint, sind deutsche Soldaten, die oben vor dem Kirchhof den letzten Schlaf in französischer Erde schlafen. Vier Litfaßsäulen aus Bruchsteinen mit je einem Kreuzlein oben drauf markieren im Viereck den monumentalen Schmuck, den das Vaterland ihrer Ruhestätte angedeihen ließ.

Auf dem Gipfel des Hügels liegen um die Peripherie des Kirchhofs die Hilariuskapelle, ein Siechenhaus und ein Beinhaus.

Dies Beinhaus ist, wie alle seinesgleichen, ein naives Memento mori. Es gilt nun einmal für ausgemacht, daß nichts so sehr an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnert, wie menschliche Gebeine inklusive Schädel, während doch umgekehrt grade diese Gebeine als Sinnbild des Unvergänglichen dienen sollten. Haben doch alle prähistorischen Funde die Dauerhaftigkeit der menschlichen Knochen dargetan.

In Marville zieht sich an den drei vollen Wänden des Beinhauses eine metertiefe Mauer kunstvoll geschichteter Arm- und Beinknochen nebst den dazu gehörigen Schädeln hin. Einzelne pietätvolle Bürger haben jeweils dafür gesorgt, daß die Schädel ihrer Altvordern nicht in der anonymen Masse der Beinhausmauern verschwanden. Sie stifteten darum für besonders wertvolle Schädel eine Art Starenkasten oder Uhrgehäuse, aus denen der Totenkopf herausgrinst, wo man sich das Zifferblatt zu denken hat.

Eines dieser Uhrgehäuse war uns vor allen merkwürdig. Der Schädel, den es enthält, ist mit einem Sträußchen verschrumpfter und vergilbter Papierblumen geschmückt, und die Inschrift lautet: „Jean Nicolas Didier, né à Sprinkange (Hollande), décédé à Marville à l’âge de 56 ana.“

Es wird in Marville erzählt, Jean Nicolas Didier sei von Zigeunern in Sprinkingen - das man sich in Holland dachte - geraubt und später in Marville ausgesetzt worden. Hier sei er aufgewachsen und geblieben auch nachdem die Beziehungen zu seiner Familie wieder hergestellt waren. Er habe in Marville geheiratet und sei dort gestorben - wann? wird nicht gesagt.

Wäre das nicht der Rahmen für den Roman von Marville?

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    Katalognummer BW-AK-013-2829