„Tiens! Mais c’est Claire!“
Also sprang es einer Dame über die Lippen, während sie bei Wierschem das Kinderbildnis betrachtete, das Meister Fresez vor rund hundert Jahren von Franz Heldenstein gemalt hat.
Der kleine Franz sitzt als Fünfjähriger in einer grünen Landschaft. Er hat sein weißes Sonntagsgewand an und Kirschen und Pensées im Schoß. Neben ihm steht sein Manillahut, der die feierliche Form des Zylinderhutes hat, und zwar des Zylinderhutes, wie ihn nach 1815 die Demi-solde trugen und der den Namen „Tromblon“ bekommen hatte, weil er sich nach oben weitete, wie der Lauf an der Pistole eines Abruzzenräubers. Was müssen die kleinen Buben dazumal brav gewesen sein, um solch feierlicher Kopfbedeckung Ehre zu machen!
In dem Schaufenster nebenan steht ein HeldensteinBildnis von Franz Seimetz. Es ist an die siebzig Jahre später gemalt und wohl eines der besten Porträts, die Seimetz je gelungen sind. Die Ähnlichkeit ist in jedem Zug von einer Treue, die verrät, mit welcher Andacht der Maler bei der Sache war. Das war der schöne Altemanns-Kopf - ich möchte diesen alten Herrn mit dem unglaublich befeuerten Temporament um alles nicht einen Greis nennen, den man sich mit wackelndem Kopf an einem Krückstock denkt - der liebe Kamerad von achtzig, den die Jungen verehrten, bei dem unterm Schnee eine Feuerseele flammte, der sich begeistern, hassen, lieben, auf den Tisch schlagen u. erheben und verdammen konnte, wie einer von zwanzig. Von dem man den klaren Eindruck hatte, daß er ums Leben nie etwas tun würde, was er für niedrig und unwahr halten würde.
So hat ihn Seimetz gemalt: den gemütlichen Choleriker im weißen Haar und Bart.
Sein Kinderbild von Fresez, dessen Werk in die Schätzung der Nachwelt hineinwächst, wie Bauwerke, von denen man sich entfernt, immer höher im Gesichtsfeld steigen - dies kostbare Zeit- und Familiendokument ist, wie gesagt, vor rund hundert Jahren gemalt.
Jenes geheimnisvoll Versunkene, Abgeschlossene, das wir Jahrhundert nennen, das auf dem Speicher der Erinnerung weggeschlossen ist, ein Fertiges, Totes, eine Mumie, das gewinnt hier auf einmal Leben und Wärme, wir reichen mit unserm Begreifen in seine Tiefen und seine Tiefen reden zu uns mit den Stimmen von Lebenden. Da ist einer, mit dem wir uns heiß diskutierten über Kunst und Leben und Tod und Unsterblichkeit, mit dessen Glas unsere Gläser zusammenklangen, der uns in der Erinnerung noch immer lebhaft um alle Straßenecken entgegentritt - und wir sehen ihn als Kind, wie er war vor hundert Jahren! Der heilige Respekt vor der dreistelligen Zahl in der Zeit geht flöten, hundert Jahre sagen uns so viel weniger heute als früher, wie hundert Franken heute gegen damals, wo das Gold noch unser Dasein veredelte.
Wie wir Anfang und Ende des Jahrhunderts so leicht zusammenknüpfen, so zeigen diese beiden Bilder andere, geheimnisvoll ergreifende Zusammenhänge auf. Es gibt kaum einen Fall, wo das Spiel der Natur mit der Wiederholung menschlicher Gesichtszüge so auffallend ist, wie hier. Großvater und Enkelin sehen aus denselben Augen, lächeln mit demselben Mund. Der kleine Franz von vor hundert Jahren ist die junge Dame von heute, die Tochter seiner Tochter. Es ist nicht die vage Ähnlichkeit, die auf der Übereinstimmung einzelner Ausmaße und Umrisse beruht, es sind die seelischen Imponderabilien, die den Gleichklang der Schwingungen erzeugen, mit denen der Gerst sich seinen Körper bildet.
Es scheint, als gehöre es zum Ton der Zeit, diejenigen als Protzen zu verschreien, die sich oder ihre Kinder in Öl malen lassen. Aber was gäben wir drum - ich meine alle, die sich in der Reihe vor und nach ihnen nicht als bloße Nummer, sondern als ein Glied in der Kette empfinden - was gäben wir drum, wenn wir in unsern guten Stuben Bilder, wie diese, aufhängen könnten, die uns den Wesenston unserer Blutsverbundenen so seltsam seltenen und bedeutsamen Klangs in der Oktav spielten!