In einer verkorenen Stunde fiel mir eine Sammlung Simplizissimus-Hefte aus den Jahren 1913, 1914 und 1915 in die Hände.
Wenn man in alten Simplizissimus-Heften zu blättern anfängt, kommt man davon sobald nicht los. Die deutsche Ceschichte und zumteil die ganze Kulturgeschichte der letzten Dezennien ließe sich viel genauer und mit unendlich feinerer Nüancierung aus dem Simplizissimus ablesen, als aus den Leitartikeln und Telegrammen der bedeutendsten Preßorgane. Denn jedes Weltgeschehen wird letzten Endes für den Betrachter von außen ganz assimilierbar erst durch seine Lösung in Humor. Ueber die deutsche Professorenoder Philisterpsyche kannst du Bände schreiben und machst sie dem Fernstehenden doch nicht so deutlich, wie eine einzige Karrikatur von Gulbransson.
Der Vorkriegs-Simplizissimus war eine patriotische Tat, ein Sicherheitsventil, ein Niveau schaffen- des Vorbild. Er hatte Witz, Humor, Geist, er war demokratisch und vornehm, volkstümlich und überlegen, derb und raffintert, alles in einem.
Mit August 1914 wird er - in den meisten Karrikaturen und dem Text dazu - so hurrapatriotisch, daß man den stolzen Burschen von früher nicht wieder erkennt. Uebertrieben, hanebuchen, prahlerisch und sentimental. Hochst wahrscheinlich ging damals in den Witzblättern aller kriegfuhrenden Lander dieselbe Wandlung vor sich, aber diese waren uns nicht zugänglich. Uebrigens war dort wie hier derselbe Beweggrund maßgebend, und dies soll darum kein Ausfan nur gegen den Simplizissimus sein.
Ein Witzblatt lebt vom Schema. Aber dann muß das Schema even witzig sein. Dies war es im Kriege nicht mehr. Es war platt, gewöhnlich, grobschlachtig geworden. Das Schema Franzose: Ehrgeiziger Zappler fin de race, der sich vom Engländer übers Ohr hauen läßt. Schema Engländer: Vorsichtiger Gerber, dem trotz der Vorsicht die Felle fortschwimmen. Schema Russe: Drecksack, Dieb und Sauser. Schema Italiener: Miles glortosus, dem der Hemdzipfel zum Hosenschlitz heraushängt. Schema Japaner: Boshafter Affe. Schema Amerikaner: Profitgieriger Egoist usw. usw. Nur von dem Velgier berommt man wenig zu sehen, trotzdem damals großer Lärm um ihn war. War es das schlechte Gewissen oder die Schwierigkeit, für diesen weniger bekannten Landsmann eine allgemein verständliche Formel zu finden?
Sie sehen, überall wird den andern jede Niedertracht, Feigheit und Erbärmlichkeit angedichtet, das eigene Volk ist der starke, der gütige, besonnene, erfolgreiche, patriotische, ehrenhafte, heitere, witzige, gefestigte brave Kerl, der dem Vaterland die Welt von Feinden vom Leibe hält. Der Simplizissismus wird simplistisch, er strengt sich nicht mehr an, es geht auch so. Nur wenn er uns nicht kriegerisch kommt, wenn er von Heimkämpfern, Urlaubern, Bierstrategen usw. berichtet, schlägt er die alten Töne an. Ueberall sonst wird er blutrünstig und albern.
Der Patriotismus mit seinen Auswüchsen genügt nicht, diese Erscheinung zu erklären. Grade die Vaterlandsliebe sollte, zur Weißglühhitze angefacht, das Edle im Menschen in Fluß bringen. Hier fließen nur Bäche von plumper Uebertreibung.
Es gibt nur eine Erklärung: In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. Das will hier - um dem Lauchstedter Wort Goethes ein klein wenig Zwang anzutun - so verstanden sein, daß die Beschränkung von außen heilsam wirkt. Oder setzen wir für Beschränkung Unterdrückung. Der Simplizissimus war nie so witzig, wie im Anfang seiner Laufbahn, wo die Langen, Th. Th. Heine, Ludwig Thoma u. a. m. für ihre spitzen Zungen und Stifte mit Gefängnis oder Selbstverbannung büßten. Nie wurde Wilhelm II. im Simplizissimus geistreicher und vernichtender verspottet, als vor der Zeit, wo er in vollem Ornat karrikiert werden durfte.
Sobald Witz und Satyre mit aufgeschürzten Aermeln und ohne Rücksicht auf den Staatsanwalt loslegen dursten, war es um Thron und Krone des Simpel geschehen.