Es war vor zirka 10-15 Jahren, da hielt ein sogenannter Bauernschreck ganz Bayern in Aufregung. Ein Zirkus-Löwe war ausgekommen und in die Wälder geflüchtet. Von dort aus holte er sich seine Beute von den anstoßenden Feldern und aus den benachbarten Dörfern. Die Bauern waren ihres und ihrer Ochsen Lebens nicht mehr sicher. Alle paar Tage stand in den Zeitungen eine neue Missetat des Wüstenkönigs.
Zurzeit haben wir in Luxemburg wohl nicht einen Bauern-, aber einen Damenschreck. Es verhält sich mit ihm folgendermaßen:
Ein junges Mädchen normalen Aussehens hat sich Visitkarten einer ganzen Anzahl von Damen der Gesellschaft auf bisher unerklärliche Weise verschafft. Diese Karten wirft es, an einer Ecke eingeknickt, in die Briefkasten herrschaftlicher Wohnhäuser. Und so stellt eines schönen Tages Frau Toutsch fest, daß ihr die Gemahlin des Generalkonsuls von Bolivia einen Besuch gemacht hat. In ihrer Abwesenheit? Sie war doch seit zwei Tagen nicht aus! Das Mädchen hat auch keine Dame gesehen, es hat kein Auto am Gartentor gehalten. Wie war es nur möglich, daß Frau Toutsch die Frau Generalkonsul von Bolivia verfehlt hat! Wo sie doch schon immer darauf brannte, mit ihr Verkehr zu bekommen!
Frau Toutsch beeilt sich, den Besuch zu erwidern. Sie fließt bei der Frau Generalkonsul über von Dank für die große Ehre, aber zu ihrer schmerzhaften Verblüffung weiß die Frau Generalkonsul nichts von einem Besuch und verhält sich äußerst kühl und ungläubig.
Zur selben Zeit spielt sich genau derselbe Auftritt zwischen Frau „Industrielle“ Schrott und Frau Direktor Schlot ab, und ähnliche Fälle mehren sich von Tag zu Tag. Die Damenwelt Luxemburgs ist in krankhafter Aufregung. Sie begreifen, ma chère! Keine wagt mehr, einen Besuch zu erwidern, keine läßt es darauf ankommen, daß ihr Besuch unerwidert bleibt. Dem ganzen gesellschaftlichen Leben droht Zerrüttung.
Wie konnte der Erfinder der Visitkarten ahnen, daß mit diesem kleinen Bristol-Rechteck jemals ein so heimtückischer Unfug getrieben würde!
Aber so ergeht es uns schließlich mit allen Kulturerrungenschaften. Wir erfinden drauf los, daß es kracht, meinen damit die Welt zu verbessern und führen sie nur ihrer schließlichen Zersetzung näher. Was wurde für ein Aufhebens gemacht von der Erfindung des Pulvers, der Buchdruckerkunst, der Gase usw. Wer dachte daran, daß später einmal diese Erfindungen mißbraucht würden, um Menschen zu töten und Wahlzirkulare zu drucken! Sogar das Göttergeschenk Feuer kann uns durch menschliche Tücke zum Fluch werden.
Wir komplizieren durch immer neue Fortschritte die Maschine mehr und mehr, ihre Teile werden immer feiner und dadurch immer empfindlicher. Die feinste Maschinerie ist es, die am leichtesten defekt wird, weit der mindeste böswillige Eingriff ein wesentliches Organ verbiegen kann.
Das gesellschaftliche Leben der Städte ist ein solcher Mechanismus. Auf dem Dorf kennt man keine Höflichkeitsvisiten, diese sind im Gesellschaftsleben schon eine Komplizierung des Mechanismus. Und haste nicht nicht gesehn! steckt der Damenschreck ein Stückcheu Papier an falscher Stelle ins Räderwerk und sofort kracht und knarrt es in der Maschine.
Ich habe dies unheimliche junge Mädchen im Verdacht, daß sie die Höflichkeitsvisiten der luxemburger Damenwelt ad absurdum führen will. Wenn sie eines Tages erwischt wird, kann sie das als Milderungsgrund geltend machen.