Original

5. März 1925

Haben Sie unter Ihren Bekannten nicht einen sogenannten Kommentaterich? Doch, ganz sicher. Lesen Sie folgende paar naturwissenschaftliche Mitteilungen über den Kommentaterich und Sie werden mit Fingern auf das eine oder andere Exemplar aus Ihrem Bekanntenkreise zeigen.

Der Kommentaterich kommt in beiden Geschlechtern vor.

Er ist ein Mensch, der den Drang in sich verspürt, alles Sein und Geschehen um sich herum mit Glossen zu versehen. Es genügt ihm nicht, daß er sich seine Gedanken über alles macht, er muß seine Noten austeilen, ungefragt, ungebeten, meist den andern zum Ärger. Er steht dem Leben als Magister mit blauem Bleistift gegenüber und streicht an, was ihm vor den Stift kommt. Er streicht nicht nur Fehler an, Gott bewahre. Er teilt auch gute Nummern aus. Er bringt es nur nicht fertig, etwas geschehen zu lassen, ohne daß er seinen Senf dazu gibt.

Es heißt, jeder Mensch sei mit egozentrischer Anlage geboren, jeder halte sich instinktiv für den Mittelpunkt des Weltalls, und es sei gut so, sonst ginge die Menschheit über kurz oder lang in die Brüche. Sobald nicht jeder für sich selbst die Hauptsache sei, werde der Kitt brüchig, der alles zusammen hält.

In gewissem Betracht trifft das auf den Kommentaterich nicht zu. Er ist insofern exzentrisch, als er es nicht fertig bringt, sich ausschließlich oder hauptsächlich um sich selbst zu kümmern. Er gleicht einigermaßen dem jungen Rebschößling, der um sich herumtastet und sich an allem festrankt, was er erreichen kann.

Der Kommentaterich hört zum Beispiel, daß der junge Ameyer die junge Bemüller heiraten will. Sofort sängt der Blaustift an zu zucken. Wie! Der Ameyer und die Bemüller! Davon habe ich ja noch gar nichts gewußt. (Eine Dreistigkeit von den Leuten, heiraten zu wollen, ohne den Kommentaterich gefragt zu haben!) Da muß ich doch gleich einmal nachfragen, was es mit diesem jungen Ameyer auf sich hat und wie er an die Bemüller kommt. Was ist er, was hat sie?

Und der Kommentaterich ruht nicht eher, bis er die nötigen Unterlagen hat, um sein Urteil über die Brautleute zu fällen und ihnen ihre Zukunft zu diagnostizieren. Man könnte Bände füllen mit den Sachverständigenberichten, die der Kommentaterich im Laufe der nächsten Woche über den Fall AmeyerBemüller gratis von sich gibt. Mit den Jahren erlangt er darin eine so große Übung, daß er überhaupt keiner Dokumentierung mehr bedarf. Er fällt intuitiv seine Urteile, nach einem Klassifizierungssystem, das sich immer mehr vereinsacht.

In der eigenen Familie findet der Kommentaterich ein unbegrenztes Feld für seine Tätigkeit. Sie haben sicher schon die Sorte von Hausfrau gesehen, die nicht an einem Kissen vorbeigehen kann, ohne daran zu tätscheln und zu glätten, die an jedem Vorhang die Falten zurechtzupfen, jedes Bild gerade rücken, jede Vase richtig stellen muß. So ähnlich benimmt sich der Kommentaterich zu seinen Hausgenossen. Er kann sie nicht stillschweigend hinnehmen, er muß sie glossieren, ihr Aussehen, ihren Appetit, ihre Laune, ihre Kravatte. Jeder fühlt sich anhaltend von ihm viviseziert und möchte am liebsten sagen: Laß mich bitte in Ruh, stell dich einmal vor den Spiegel und mach dir klar, wie du selber aussiehst. Du wirst staunen, was alles an dir blau anzustreichen wäre!

Aber nein, wer das sagt, kennt den Kommentaterich nicht. Der Kommentaterich hält es für vollkommen ausgeschlossen, daß an ihm das Mindeste auszusetzen wäre. An dem Tag, wo er die Überzeugung gewänne, daß er nicht ein Ausbund von Vollkommenheiten ist, ginge für ihn die Welt unter.

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KatalognummerBW-AK-013-2856