Aus aller Welt kamen die Meldungen von späten Schneefällen. Besser spät, als gar nicht. 1895 lag hoher Schnee den ganzen Monat März hindurch und im Herbst wuchs ein Wein, an den Kenner noch heute nicht ohne tiefe Rührung zurückdenken.
Amerikanische Blätter prophezeien einen warmen Sommer. Weil, sagen sie, in den Modejournalen die nächsten Sommertoiletten mit Pelz verbrämt sind.
Es lag seit einigen Tagen sehr nah, über den Schnee zu schreiben. Aber dann hätte es wieder ausgesehen, als ob der Schnee expreß der Zeitung wegen weggeschmolzen wäre. Die Zeitung ist ja doch immer an allem schuld.
Nun ist er ohne uns weggeschmolzen. Man muß die Schneeschmelze zu nehmen wissen, andernsalls erlebt man an ihr keine Freude. Für die Damen, die ihr Schuhwerk auf eine immer dürftigere Form reduzieren - grade noch eine Sohle, ein Absatz und oben herüber ein wenig zum Festhalten -, für diese muß die Schneeschmelze fürchterlich sein. Ich sah eine, der der Schneeschlick nur so über Zehen und Spann bis an die Knöchel klatschte, aber sie trat tapfer hinein, grade, als ob sie etwa in Wörrishofen morgens früh barfuß in einer taunassen Wiese nach Pfarrer Kneipp’schem Rezept herumstapfte. Wer weiß, was fett macht, und ob die dünnen Schuhe und kalten Füße nicht grade zur Abhärtung der Damenwelt ein gut Teil beitragen. Vielleicht verheimlichen sie auch nur ihren Schnupfen, damit ihnen der Arzt keine Wollstrümpfe und kein dickeres Schuhwerk verschreibt.
Ich ging unter der blanken Sonntags-Vormittagssonne durch die Schneeschmelze den Gaspericher Berg hinauf. Das ist die Richtung nach Süden. Man hat um diese Jahreszeit instinktip den Zug nach Süden. Die einen führt er bis Nizza, Korsika, Marokko usw., die andern bis Gasperich.
Wenn man bei der Schneeschmelze der Sonne entgegengeht, sind die Straßen rinnende Silberbäche. Man ist geblendet und freut sich des Glanzes. Die Menschen vor einem sind schwarze Silhouetten, wie schwarze Zapfen auf der weißblinkenden Walze einer Musikdose. Und die Wolken! Die Wolken sind wie Studenten, die in die Ferien ziehen, nachdem sie ihre Prüfung glänzend bestanden haben. Man glaubt sie singen zu hören. Sie tun dick mit dem Sonnenlicht, von dem sie sich vollgetrunken haben. Sie sind wieder jede für sich ein strahlendes Wolkenindividuum, nachdem sie Monate lang im Internat des Winters nur ein Nebelkonglomerat waren. Sie sind so nah, daß man sich an sie hängen und mit ihnen fortfliegen kann.
Aber der Dreck! Einem Dorf, wie Gasperich, nimmt man den Dreck nicht übel. Man kann auch nicht verlangen, daß eine Straße, wie die am Hollericher Bahnhof vorbei aussehe, wie ein Tanzsaal, oder daß man im Mühlenweg vom Boden essen könnte. Aber in einer Stadt wie Luxemburg müßte es doch möglich sein, wenigstens im Innern, vom Bahnhof nach dem Stadtzentrum, saubern Fußes seinen Weg zu finden, selbst wenn Schneeschmelze ist. Am Sonntag war es so, daß man in der ganzen Adolfavenue keinen Streifen fand, wo man nicht beinahe knöcheltief in den Dreck trat. Daß man unsere Straßen nicht asphaltieren kann, weil wir ein blödsinniges Kanalisationssystem haben, das grade für Hosingen oder Weiswampach passen würde, ist schon traurig genug. Aber daß auch unsere Trottoirs in einem Zustand daliegen, der bei Tau- und Regenwetter sie als Dreckpfützen erscheinen läßt, das ist mehr, als selbst unser Krähwinkel sich leisten dürfte. Grade auf diesem meistbegangenen Weg vom und zum Bahnhof sollte doch längst dafür gesorgt sein, daß der Fußgänger bei jedem Wetter saubere Schuhe behielte. Das wäre eine Arbeit „des Schweißes der Edeln wert“. Sogar des Schweißes der Straßenwärter.
Aber wahrscheinlich werden die kaum gepflanzten Linden an der Adolfavenue längst wieder gefällt sein, ehe von den Trottoirs dort die knöcheltiefe Dreckschicht dauernd beseitigt ist.