Original

20. März 1925

Der polnische Schriftsteller Znowski lebte in Paris mit seiner Landsmännin und Freundin Stanislawa Uminska. Znowski litt Höllenqualen durch einen unheilbaren Magen- und Darmkrebs. Er war unrettbar verloren. In diesem Zustand flehte er seine Freundin an, ihn zu töten. Sie widersetzte sich lange seinem Wunsch und pflegte ihn mit engelhafter Hingabe. Sie ließ sich sogar Blut abzapfen, als die Ärzte von einer möglichen Rettung durch Transfusion sprachen.

Schließlich gab sie nach und tötete ihn, um ihn von seinen entsetzlichen Leiden zu erlösen.

Ein Pariser Chronist bemerkt dazu:

„Es gehört absolut Verzweiflung dazu, den Geliebten zu töten, aber auch eine besondere Schwäche, fast möchte ich sagen Feigheit, um sich dann nicht selber zu töten.“ Und vom Standpunkt des Gläubigen zieht er folgende Schlüsse: War Fräulein. Uminska gläubig, so durfte sie nicht töten, denn sie wußte, daß sie damit ein Verbrechen beging. War sie ungläubig, so mußte sie nach dem Mord Selbstmord begehen.

Das Räsonnement ist merkwürdig oberflächlich und simplistisch.

Zunächst aber eine Frage: Wenn Znowski meinte, nicht mehr leben zu können, warum tötete er sich nicht selbst? Die Frage deckt eine neue Seite der Angelegenheit auf und ihre Beantwortung hängt von Faktoren ab, über die ein Fernstehender nichts weiß.

Der Pariser Kollege meint also, wenn Fräulein Uminska Religion hatte, so durfte sie ihren todgeweihten Geliebten um keinen Preis töten, weil sie wußte, daß sie ein Verbrechen beging.

Im andern Fall mußte sie Selbstmord begehen.

Also: Entweder nicht töten, oder dann Selbstmord.

Wie aber, wenn Stanislawa Uminska, trotzdem sie als gläubige Katholikin wußte, daß sie ein Verbrechen beging, dieses auf sich nahm, weil sie lieber zur Verbrecherin wurde, als daß sie den Geliebten ein paar Tage oder Wochen länger leiden und dann trotzdem sterben sah?

In diesem Fall würde der Pariser Kollege sie nicht zum Tode durch Selbstmord verurteilen, sondern sie zur Beichte schicken.

Es ist nicht zum ersten Mal, daß ein Mensch aus Mitgefühl dem Leben eines andern ein Ende bereitete und weiter lebte, ohne von seinen Zeitgenossen als Feigling gebrandmarkt zu werden.

Die Chronik berichtet aus den Zeiten des luxemburger Klöppelkriegs, daß der Schäfer Michel Pintz aus Asselborn einen französischen Gendarm, der auf den Tod verwundet und rettungslas verkoren war, auf sein Flehen durch einen Schuß erlöste.

Der englische Romanschriftsteller Joseph Conrad erzählt in der Novelle «The warrior’s soul», wie ein junger russischer Offizier, namens Tomassow, einen französischen Kameraden, de Castel, der ihm früher in Paris einen großen Dienst geleistet hatte, auf dem Rückzug von Moskau auf dessen dringende Bitten erschießt, um ihn zu erlösen „von einem Schicksal, das schlimmer war, als der Tod, dem gänzlichen Verlust von Mut und Hoffnung“. Und nirgends findet sich eine Andeutung, daß dem jungen Tomassow das Weiterleben als Feigheit gedeutet worden wäre, obgleich in dem Milieu, in dem die Geschichte spielt, die Ehrbegriffe sehr geschärft waren und ein Soldatenleben wenig galt.

Der Pariser Chronist stützt sich auf das Bibelwort: Du sollst nicht töten.

Nachdem der Genius der Gattung für die Weiterbevölkerung der Erde sorgt, indem er dem Menschen den entsprechenden Trieb einpflanzt, kommt der Mensch und sorgt in seiner Weise für die Erhaltung der Art, indem er das Gebot erläßt: Du sollst nicht töten! Dies ist kein Gebot der Natur, es gibt keinen Naturtrieb, der uns vom Töten des Nächsten abhält. Wenn wir auf Urzustände zurückgreifen, ist sogar das Umgekehrte wahr.

Menschenwort und Menschengebot aber verträgt Ausnahmen. Und dieses speziell ist nichts, als eine billige Vorsichtsmaßregel, solange das Töten in Massen, das Krieg heißt, als Kunststück und Heldentat gepriesen wird.

Betrachten wir die Tat der Stanislawa Uminska auf dem Hintergrund der Grenel, die von 1914 bis 1918 die Welt entsetzten, so bekommt sie ein anderes Gesicht.

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KatalognummerBW-AK-013-2869