Original

22. März 1925

H. G. Wells schreibt im Vorwort zu seinem jüngst erschienenen Roman „Bealby“:

„Unter einem unwiderstehlichen Antrieb gab ich in dieser Geschichte eine leitende Rolle einem Lord Kanzler, der für Hegel schwärmte. Ich wehrte mich dagegen, vergebens. Ich wußte sehr wohl, daß es in der Welt einen Lord Kanzler gab, der Hegel las und sonst in keiner Weise meinem Lord Kanzler glich. Niemand, der den wirklich bestehenden Mann kennt, kann einen Moment sich vorstellen, daß meine Figur für ihn gemeint ist, physisch und als Temperament sind beide ganz und gar verschieden. Aber es gibt jederzeit jenen einfältigen Provinzler, der „zwischen den Zeilen liest“ und der fortwährend „Porträts“ und „Karikaturen„ in harmlos schöpferischen Werken entdeckt.“

Damit hat der kluge Engländer scharf und drastisch den spitzfindigen literarischen Erbsenzähler lokalisiert, der Werke der Phantasie, Erfindung und Kombination nur als Rebusse und Rösselsprünge auffaßt.

„Gelt, Sie haben mit Ihrem Amüller den Bemeier gemeint? Großartig, tiptop, wie er leibt und lebt!“

„Aber erlauben Sie, mein Amüller ist Arzt, groß, blond, Arier, Ihr Bemeier ist Bankier, klein, mit schwarzen Krollhaaren und ausgeprägt semitischem Typ.“

„J wo, darauf kommt es nicht an. Man hat von Ihrem Amüller a tempo den Eindruck, daß Sie den Bemeier meinen. Alles stimmt. Er macht Pleite, als Arzt, allerdings, aber doch sozusagen Pleite, schiebt sich wieder hoch, hat das Verhältnis mit der Ministersgattin, gerät in die Politik, tanzt auf der Politik, wie auf einem Drahtseil, stürzt ab - Sie können nicht leugnen, daß das auf Bemeier stimmt, wieder Topf auf den Deckel.“

„Oder Bemeier hat nie Pleite gemacht, war nie in der Politik, hat nie Seil getanzt ....“

„Jawoll, das kennt man. Das haben Sie alles dazu erfunden, damit es schwerer zu erraten ist. Aber das Techtelmechtel, das Bemeier mit der Sängerin gehabt hat, das verrät Sie!“

Do konn mer nix mochen! Es gibt in jedem weiteren Umkreis Dutzende von Menschen, die Pleite machen, schieben, Ehebruch und Politik treiben - einerlei, der Amüller muß ausgerechnet der Bemeier sein.

Wer zu einer erfundenen Handlung die zugehörigen Personen erfindet, lehnt sich notgedrungen an gegebene Vorbilder an, nimmt von dem einen diese, vom andern jene Einzelheit - wo eine Gruppe von Einzelheiten ein typisches Ganze bildet, hütet er sich, sie auseinander zu reißen. Er entlehnt nicht nur Züge der äußern und inneren Erscheinung, sondern oft Reihen von Lebensschicksalen, er schiebt die ins Reich der Phantasie und Erfindung herübergenommene Figur auf den Schienen seiner Handlung weiter, oft weitab von den wirklichen Schicksalen des Vorbilds, aber er gebraucht dies, wie ein Arzt einen Gesunden gebraucht, um aus dessen Adern Blut in die Adern eines, den er beleben will, rinnen zu lassen.

Nur Provinzlereinsalt macht ein Puzzle-Spiel daraus, die zerstückelten Vorbilder zu sammeln und zusammensetzen zu wollen.

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  • English literature: HG Wells
KatalognummerBW-AK-013-2871