Original

9. April 1925

Also das Schaf tritt wieder in unser Leben, wird wieder ein lebendiger Bestandteil unserer Wirtschaft und unserer Sinnenwelt. Und mit ihm selbstverständlich der Schäfer.

Ein Bekannter, der Bescheid zu wissen schien, rechnete mir vor, wieso die landwirtschaftlichen Großbetriebe - soweit wir hier von Großbetrieben zu reden gewohnt sind - allmählich wieder zur Schafzucht übergehen, daß sie damit Arbeitskräfte sparen, daß das Milchschaf jährlich zwei Lämmer, das Landschaf nur ein Lamm bringt, daß die Wolle des Milchschafs reiner, aber leichter ist, daß eine Zibbe einen Wert von zirka 500 Franken hat und jährlich 100 Franken Nutzen abwirft usw. usw.

Tatsächlich sah ich auf einer Fahrt durchs Ösling dieser Tage wieder mehrere Schafherden auf der Weide. Es scheint sich also zu bestätigen, daß Schaf, Schöps und Widder im Aufstieg begriffen sind.

Wünschen wir uns Glück dazu. Denn das Schaf begann uns zu fehlen. Ideell und materiell. Es ist ein Wert, den die Jüngeren nur noch vom Hörensagen kennen. Wenn den Kindern in der Schule der Herr Jesus als der gute Hirt gezeigt wird, der ein Lamm aus den Dornen befreit und es auf der Schulter heimträgt oder wenn er gar als Lamm Gottes versinnbildet wird, so denken sie, die vielleicht nie ein lebendiges Schaf, jedenfalls keine Schafherde und keinen richtigen Schäfer gesehen haben, sich dabei irgend etwas Biblisch-Orientalisches im Zusammenhang mit Kamel, Heuschrecken und wildem Honig. Das wird jetzt wieder anders.

Auch in der Kunst hatte das Schaf von jeher eine Stätte. Die Schafherde im Morgen- oder Abenddämmer, im Nebel oder Sonnenglast hat zu allen Zeiten die Maler gereizt.

Kulinarisch ist das Schaf unerschöpflich, wie Sie wissen. Da spielt der Hammel, der Schöps sozusagen die Rolle des Erbonkels. Dem Sprachgebrauch nach stammen von ihm die leckern Gerichte, die als Hammelkeule, Hammelkotelett, Reis mit Hammelfleisch, Hammelbraten usw. rubriziert sind. Nur das Oster- lamm tritt zeitweilig als zarteres Familienmitglied in die Erscheinung.

Teurer noch, als das Schaf, ist uns der Schäfer (ohne freche Anspielung auf die Komparativform).

Ich sehe bei einem gerührten Rückblick in meine Kindheit einen alten Kasten mit alten Büchern in einer Dachkammer, und vor dem Kasten mich selbst mit einem vergilbten Bändchen in der Hand, darauf stand der Titel: Vom alten Schäfer Thomas.

Man konnte daraus erfahren, wann die Welt unterging, wie die Sterne hießen und wie der Pips bei den Hühnern zu kurieren sei.

Später sah ich zuweilen einen Schäfer in Fleisch und Bein. Sein weiter Mantel umwallte ihn, er stand auf einem Stoppelfeld und strickte Strümpfe, und wenn sich ein Schaf zu weit von der Herde wagte, pickte er mit seiner „Hulett“ ein Schöllchen vom Boden und warf es dem Ausreißer vor die Nase.

Ein andermal sah ich einen in der Nacht, er kroch grade aus seinem Räderkarren, sein Hund kreiste um ihn in weiten Bogen, vielleicht hatte er einen Wolf gewittert. Denn in der Belletristik gehört zu den Schafen der Wolf. Und darüber her war ein funkelnder Sternenhimmel.

Wie seltsam, daß sich mit diesen dummen Tieren so poetische und malerische Wirkungen erzielen lassen. Kennen Sie von Rivière das wunderbare Gedicht in Schattenbildern: La Marche à l’Etoile? Die Geschichte von den drei Königen aus dem Morgenland und dem Stall von Vethlehem? Auf einem der Bilder ziehen Schafe vorüber, und die tausend durcheinander wimmelnden Schafbeine sind ein Wunder regungsloser Bewegung.

Also freuen wir uns, daß die Schafe bei uns wieder zu Ehren kommen. Und denken wir in stillen Stunden über die tiefe Wahrheit nach, daß die Welt aus Hirten und Schafen besteht.

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