Wer in den Geist einer Zeit, eines ragenden historischen Geschehens eindringen will, soll sich vor allen Dingen die Gesichter der Menschen ansehen, die dabei Führerrollen gespielt haben oder auch nur passiv an erster Stelle beteiligt waren. Man begreift zum Beispiel die französische Revolution in ihrem Ausbruch und ganzen Ablauf nie besser, als beim Betrachten der Charakterköpfe jener Zeit. Vor einem Bild Ludwigs XVI., Marats, Robespierres prägt sich Dir die Erinnerung an alle Zusammenhänge mit ihnen ein, ein in der Geschichte schwankendes Charakterbild steht auf einmal fest, nimmt bestimmte Züge an und Du suchst sein Handeln aus diesen Zügen zu erklären. Die tote Geschichte wird Dir zu lebendigem Geschehen.
Physiognomik und Graphologie haben allerhand miteinander gemein. Eine Schrift und ein Gesicht reden auf den ersten Blick und reden nicht immer die Wahrheit. Man sagt sich: Dieser Mensch ist gebildet oder ein geistiger Rohling, er ist energisch oder schlapp. Bei näherer. Betrachtung entdeckt man immer mehr Einzelzüge, die sich zu einem komplizierten Ganzen durcheinander wirren und deren Resultante erst die Grundlage für ein einigermaßen zuverlässiges Urteil abgibt. Der Graphologe ebenso wie der Physiognomiker muß die Einzelzüge gegen einander aufrechnen, um zu einem Endergebnis, einer Lösung der Rechenaufgabe zu gelangen.
Interessant und lehrreich ist es dann, den umgekehrten Weg zu gehen, in der Schrift oder im Antlitz eines Menschen, dessen Charakter oder dessen Entwicklung und Lebenswerk man kennt, den Zügen nachzugehen, in denen sich seine Veranlagung verrät.
Ein Blick auf ein Bildnis des unglücklichen sechzehnten Ludwig von Frankreich genügt, um sein Schicksal zu verstehen. Das gedunsene Gesicht des passiven Genießers, sinnlicher Mund, Knopflochäuglein, sogar die eigentlich energisch sein wollende Höckernase gutmütig verfettet, rundes Kinderkinn, und über dem ganzen Gesicht eine träge, teilnahmlose Dickköpfigkeit.
Zu den auffallendsten Charakterköpfen jener großen Zeit gehört Mirabeau. Rundes Gesicht, aber Gockelprofil, das Kinn aggressiv herausgereckt, von den dünnen Lippen die untere trotzig vorgeschoben, zwischen den Brauen eine tiefe, breite, senkrechte Furche, der Blick voll herausfordernder Überlegenheit - man denkt an eine Trompete, die immer zum Schmettern bereit ist.
Camille Desmoulins zeigt auf einer Zeichnung von Suvée ein heiter visionäres Knabengesicht. Der Abbé Sieyès blickt würdevoll verschlagen drein. Er könnte sich glaubhaft als Frau verkleiden. Er sprach über das alte Regime die Totengebete und hielt das neue über die Taufe. Er war in seiner Abbé-Rolle. Madame Roland’s Gesicht gehört einem Typ an, dem man auch heute noch auf Schritt und Tritt begegnet. Augen, die harmlos hinter die Dinge sehen, Lippen mit dem Lächeln der Mona Lisa ins sein Ironische übersetzt. Eigentlich wundert man sich über ihren Einfluß auf die Girondins. Danton hat etwas von der burschikosen Gutmütigkeit unseres Freundes Marken Emil - was nicht dasselbe heißt, wie Emil Mark.
Beim Anblick eines Bildes von Robespierre fragt man sich, ob es möglich ist, daß hinter dieser runden Kinderphysiognomie, die einer naiven Kammerzofe wohl anstünde, so viel Tücke und Grausamkeit sich verbergen konnten. Und dann kommt nach all diesen Aushängseln eines merkwürdigen Menschenguts das merkwürdigste: der Kopf des jungen Bonaparte mit dem stolzen, verhaltenen Blick und der trotzigen Verachtung um den Mund.