Original

25. April 1925

Früher konntest Du erkennen, daß Du alt wurdest, wenn Deine Freunde sich über Dein „jugendliches Aussehen“ erstaunten, wenn sie Dich beim Spazierengehen respektvoll in die Mitte nahmen, und wenn Du jedes Jahr rechtzeitig Deine Steuern bezahltest.

Heute tritt dazu ein neues Kriterium. Du bist ein alter Herr, wenn Du nicht zu den Stammgästen des Velodroms gehörst. Alles, was jung ist, kennt den Weg nach dem Sportplatz an der Bel-Air-Straße auswendig und ist draußen, sobald „Muskel in der Luft liegt“. Am Donnerstag konnte man es sehen. Die Kaaba in Mekka ist für den Gläubigen kein stärkerer Magnet, als der Sportpark für alles, was junge Beine hat und den Wert junger Beine in der Welt zu schätzen weiß. Alles war draußen, zu Fuß, zu Rad und zu Wagen, vom Dienstmädchen, das früh morgens auf dem Rad der Tochter des Hauses heimlich fahren lernt bis zur Weltdame, die zur Abwechslung einmal sich am Anblick staubiger, muskulöser Rennfahrerbeine freuen will, vom Schulbuben oder Lehrling, der von künftigen Siegeslorbeeren träumt und im Geist die Schluß-Runde mit der Blumengarbe im Arm unterm Beifallstoben der Menge fährt, bis zum Veteranen, der seiner Umgebung erzählt, wie er früher auf dem hohen Rad Triumphe gefeiert hat. Ihnen allen ist das Leben und Treiben auf dem Velodrom bis in alle Einzelheiten vertraut, sie finden dort eine Art Exterritorialität, in der hoch über der Krähwinkelei unserer Erdgebundenheit ein internationales Wesen sich umtreibt, ein großzügiges Herausgerissensein aus kleinlichen Verhältnissen, eine Weltkampfluft, in der die Großen von draußen mit den Kleinen, den Werdenden von hier in die Schranken treten. Und ein Sprungbrett, von dem die Auserwählten den Satz hinauf in die Welt des Ruhms und des Mammons üben dürfen.

Bevor am Donnerstag die Belgier kamen, kreisten die Gindt, Frantz II, Huß usw. unermüdlich ihre 60 Kilometer herunter. Sie schoben sich lautlos in der Runde über das zementgraue Band der Rennbahn, wie farbige, glitzernde, zierliche Fabeltiere, scheinbar automatisch, wie die Zeiger einer Uhr - und doch gärte und schwelte, rechnete und lohte es in den Köpfen und Herzen dieser zierlichen bunten Fabeltiere, jeder dachte, wie er es anfangen sollte, die Kameraden zu überlisten und zu überrunden - und dann kam manchmal in die bunte Gruppe ein Zerfließen und Auseinanderrinnen, wie in Rauchwölkchen, wenn ein Windhauch bläst und sie sanft auseinander dehnt.

Bei keinem Sport sieht man, wie beim Radrennen, die Arbeit des Einzelnen so systematisch zu einem Schluß-Maximum komprimiert. Der Endspurt zwanzig Meter vor dem Zielband gibt den intensivsten Eindruck von verbissener Anspannung aller Kraft in einem menschlichen Individuum. Dank diesem sekundenlangen Schauspiel, in das sich ein Allerhöchstes zusammendrängt, behält der Radsport immer seinen Reiz, zumal, wenn der Schluß sich auf einer so komfortabeln Bahn, wie der hiesigen, vollzieht, wo Tausende - man möchte sagen mühelos die Früchte einer mühsamen Tagesarbeit pflücken können, bei Musik und trefflicher Verpflegung. Es ist wirklich wert, lieber Leser, daß Du wieder jung wirst, um Dir alle diese modernen Eindrücke zu verschaffen.

Zu einem der modernsten davon gehört ganz sicher der Blick auf die Fahrradgarage am Eingang. Dort standen am Donnerstag an die 500 Räder, Gummi an Gummi, Speiche an Speiche. Diese Räder gehörten sozusagen ausnahmlos Jugendlichen, von denen die meisten sicher noch nicht im Erwerb stehen. 500 Räder zu rund 400-5000 Franken gibt einen Wert von nahezu einer Viertelmillion. Stellen Sie sich vor, dies hätte einer vor fünfzig Jahren ausgedacht: 500 junge Burschen und Mädels, denen ein Wert von 250 000 Franken gehört, ohne daß sie damit und ohne daß sie noch überhaupt - die meisten von ihnen jedenfalls - einen Heller verdienen. Unsere Großväter und Großmütter wären darüber in Ohnmacht gefallen, wir sehen darin einen notwendigen Bestandteil des Lebens von heute.

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