Morgen also ist der erste Mai.
Dieser Tag ist durch allerlei ausgezeichnet, vornehmlich aber dadurch, daß er immer mehr zum Weltfeiertag erhoben, und daß an ihm ein Jubiläum geseiert wird, für das Sie sich zweifellos interessieren, ob Ihre Wiege in Weiswampach oder Schengen, in Echternach oder Martelingen-Rombach stand.
Die Jubilarin heißt für die Post und die sonstige amtliche Öffentlichkeit Frau Huß-Reyter, Hôtel de la Gare, Bad Mondorf. Für die übrige Menschheit heißt sie Husse Märri, ihre alten Bekannten nennen sie Husse Märrichen.
Diese Mehrbenannte feiert morgen das Jubiläum der Eröffnung ihres Hotelbetriebes. Sie hat vor vierzig Jahren, auf den Tag, am 1. Mai 1885, um halb acht Uhr morgens, auf der Marmorplatte ihres Schanktisches, das erste Gläschen Edelschnaps verzapft. Der Herr, der als Konsument diesen denkwürdigen Augenblick zu 50% miterlebte, wird sich hoffentlich am morgigen Ehrentag in Mondorf einstellen und der Jubilarin gratulieren, wenn er inzwischen nicht das Zeitliche gesegnet hat. Damit hätte er unrecht. Hätte er bis auf den heutigen Tag von dem trefflichen Quetsch bei Husse Märrichen weitergetrunken, so wäre er sicher noch am Leben.
So wie Ihr diese Frau Wirtin in ihrem Betrieb sich ruhig betätigen seht, hat sie vor vierzig Jahren das Hôtel de la Gare gebaut - ganz sicher das „delagarste“ des Landes, denn die Züge halten auf zwei Meter von seiner Türe. Ihr Haus wurde einigermaßen die lebendige Keimzelle des ganzen Viertels, das dort herum neu entstanden ist.
Sie ist es wert, daß ihrer morgen in Dankbarkeit von den Tausenden gedacht wird, die diese vierzig Jahre hindurch an ihrem Tisch saßen. Sie gehört zu Bad Mondorf, wie die Quelle, wie der Park, wie das Andenken an den Doktor Klein. Sie ist ein Kind der Gegend und sie ist es ihr ganzes Leben lang geblieben. Einfach, sachlich, deftig. Hundert Schritte von ihrem Vaterhaus, überm Bach, war Frankreich, wie heute wieder. Seines Odems ein Hauch ist schon in ihre Kinderseele geflossen.
Sie ist auf dem Boden gewachsen, der den besten und meisten Weizen im Lande trägt, und ihre Gäste können von ihr mit dem Psalmisten singen:
Ex adipe frumenti satiavit nos!
Das Hôtel de la Gare in Bad Mondorf ist berühmt durch seine Wirtin, aber auch durch seine Terrasse. Diese gehört zu den berühmtesten Gasthausterrassen des Landes. Wie vor der Terrasse in Ehnen die Mosel, so fließt vor der Hôtel de la Gare in Bad Mondorf der Strom des Verkehrs unablässig vorbei. Da sitzen während der Badesaison die Gäste und flößen den Vorübergehenden Neid ein, weil sie nicht auch dableiben können. Und die Frau Wirtin steht auf der Schwelle und lächelt den Bekannten zu und aus den Waggons strömt es hinein zu einem Stehschoppen und umdrängt den Schanktisch, denselben, auf dem vor vierzig Jahren das erste Glas Schnaps floß, und man freut sich, wenigstens die eine Minute lang wieder da zu sein, bis der Schaffner zur Abfahrt mahnt.
Sind im Herbst die letzten Gäste abgereist, die Karussellklänge der Michelskirmes verschwebt, die letzten Blätter von den Bäumen getorkelt, dann konzentriert sich das Mondorfer Winterbadeleben um den runden Tisch im Café des Hôtel de la Gare. Einträchtiglich trinken die Honoratioren ihren Humpen - im Vorfrühling gar Salvator - und spielen ihren Skat, Whist, Bridge und Stippy und Frau Märrichen spielt mit oder sitzt am Ofen in ihrem Lehnstuhl - wenn sie ihn nicht aus Liebenswürdigkeit einer andern eingeborenen Dame abgetreten hat - und freut sich am Behagen ihrer Gäste.
Beherbergen, speisen und tränken, sind die drei Beschäftigung, die ihrem mütterlichen Naturell liegen. Ihre Gäste waren stets ihre Freunde, ihr Haus war für die Wochen der Kur allezeit die Heimat der Kunden. Es trug und trägt ein Gepräge eigener Art, es wird ein Mittelpunkt gemütlicher Gastlichkeit bleiben, solange der Geist seiner Erbauerin, der Frau Husse Märrichen, darin lebendig bleibt.