Original

5. Mai 1925

Als gestern morgen die ersten Prozessionen über die Reue Brücke kamen, ging ein Rudel Schulbuben vorbei. Sie blieben kaum stehen, das Schauspiel interessierte sie sichtlich nicht besonders. Nur ein deutsches Hochzeitspärchen, kenntlich am Bädecker, den Er in der Hand trug, und an Ihrem neuen Tailor Made, blieb stehen und besah sich das Schauspiel mit einem seltsamen Gemisch von Spott und Ehrfurcht.

Diese Einmündung der bäuerlichen Ströme laut geäußerter Andacht in die Zentrale verliert allmählich ihren gemütlichen Charakter von früher.

An der Peripherie ist am Wesen der Oktave wohl wenig verändert. Da draußen gehört die Pilgerfahrt zur Maienzeit noch immer zu den beliebtesten Ereignissen des Jahres. Noch immer ist sie der Kinderseele ein Großes, Farbiges, Rauschendes, das einem ganzen Teil des Jahres sein Gepräge gibt und wie Goldstickerei im Gewebe der Erinnerung schimmert. Noch immer zählt die Jugend, wie oft noch aufzustehen ist, bis die Prozession geht. Noch immer werden mit Lust und Liebe die Eier gekocht und die Waffeln gebacken, die die Wegzehrung bilden werden, noch immer ist es ein wonnevolles Wandern durch die Täler und über die Höhen und noch immer schlagen die jungen Herzen in heftiger Erwartung, wenn die Türme der Stadt fern in den dunstigen Morgen steigen.

Aber hier in Luxemburg hat sich das Bild verändert. Trambahnen und Automobile, der gesteigerte Verkehr zumal zwischen Stadt und Bahnhof bringen in das feierlich sein wollende Schauspiel zu viel unfeierlichen Lärm und zu viel Busineß, zu viel Tempo hinein. Es ist auf einmal, als müßten zwei feindliche Elemente in- und durcheinander rinnen. Man denkt an den Müller und den König in Sanssouci. Des Königs Gedanken störten nicht den Gang der Mühle, wohl aber störte der Gang der Mühle die Gedanken des Königs. Die Feierlichkeit der Prozessionen kann den Rubel nicht am Rollen hindern, aber der rollende Rubel macht heute so viel Lärm und braucht so viel Platz, daß die Feierlichkeit der Pilgerzüge dadurch in die Brüche gehen muß.

Auf die Dauer werden die Prozessionen nicht beanspruchen können, daß sie als Verkehrshindernis offiziell anerkannt werden, und daß ihretwegen der normale Ablauf des geschäftlichen Handels und Wandels zu Fuß und Wagen zwischen Stadt und Bahnhof durch eine besondere Verkehrsordnung eingeschränkt werde. Heute kommen die beiden zur Not noch aneinander vorbei, aber für den Frommen muß es doch schon heute eine Entweihung sein, daß schnatternde und hupende Last- und Personenautos um die Wette mit dröhnenden und klingelnden Trambahnwagen unablässig zwischen den Reihen der Beter auf und ab rollen, die Andacht der Pilger gewaltsam mit weltlichen Gedanken durchsetzen und aufdringlich verkünden, daß der Tag dem Geschäft gehört. Der Verfassung ist es egal, sie verbürgt jedem Luxemburger das Recht, seine Religion zu bekennen oder nicht zu bekennen. Die Freiheit eines jeden findet ihre Schranke an der Freiheit des Nachbarn. Man wird sich also vielleicht eines Tages einigen und einen Ausweg aus dem drohenden Interessenkonflikt finden müssen.

Das hätte sich die gute alte Oktave nicht träumen lassen, daß man ihretwegen „Mittel und Wege“ suchen müßte.

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