Original

6. Mai 1925

Der Ginster und der Kuckuck beherrschen die Stunde.

Sie sind beide widerborstige Gesellen, die bei den Menschen nie hoch angesehen waren und es wohl auch nie sein werden. Aber sie machen sich nichts draus, wie alle ihresgleichen. Und einmal im Jahr haben sie ihre Zeit, wo die Menschen vergessen, daß sie sozusagen nur am Rand der Gesellschaft ein überflüssiges Dasein fristen. Wenn der Frühling einzieht, kommen Ginster und Kuckuck zu Ehren, bis der eine verblüht ist und des andern Gesang uns nichts Neues mehr ist. Dann verfallen sie wieder der allgemeinen Mißachtung.

Jetzt ist ihre Zeit. Im Ösling übergolden sich schon seit einigen Tagen die Südhänge mit dem Blust der Ginsterbüsche, und während Du an einem sonnigen Tag Dich an der Pracht dieses Landstreichers freust, hörst Du von irgendwo die zwei Flötentöne seines Gesellen, der Dir sagen will, wie lang Du noch leben wirst.

Ginster und Kuckuck gehören im Jahr und in ihrem Charakter zusammen. Ob sie schon zwei Unnütze sind, von denen niemand sich eines Guten versieht, tun sie doch ihr Bestes, sich nützlich zu erweisen. Der eine durch seine angebliche Prophetengabe, der andere auf viel praktischere Art. Der Ginster hat es sogar so weit gebracht, daß er eine Rolle im Haushalt spielt. Es lassen sich aus ihm vortreffliche Besen herstellen, mit denen die unsaubersten Ecken ausgefegt werden können. Auch wenn Du nicht in einer Gegend zuhaus bist, in der Ginster wächst, mag Dir der bittre Duft des zerschnittenen Ginsters von einem solchen Besen her vertraut sein. Und wenn im Ösling ein armer Mann sich eine Hütte bauen will und verfügt weder über Stein noch Mörtel noch Schiefer oder Ziegel, so hat er immer Lehm und Ginster, aus denen er Mauern und Dach anfertigen kann.

Die Zeit geht vorwärts, und es ist nicht ausgeschlossen, daß sie auch noch einmal den Ginster zu einem nützlichen Glied in der Wirtschaft der Menschen erheben wird, indem ein Gelehrter ein Mittel findet, aus ihm ein Genuß- oder Gebrauchsobjekt herzustellen. Wenn wir darauf aus sind, die Zigeuner allmählich zu seßhaften Staatsbürgern zu machen, so wird sich auch für den Ginster ein Platz finden, auf dem er seine Steuern zahlen muß.

Mit dem Kuckuck wird es schwerer halten. Er wird sich wohl nie bereit finden, auf Kommando zu singen oder mit seinesgleichen einen Gesangverein zu bilden, der seine Frühlingsarien im Chor singt, wenn Sonntags die Ausflügler die Sauer, Wiltz und Clerf hinauf fahren und wandern. Daß er die andern Vögel, wie heute durch Filmaufnahmen einwandfrei festgestellt ist, aus ihrem eigenen Nest wirft und sich darin heimisch macht, wird er sich kaum als Verbrechen anrechnen, nachdem er gehört hat, daß in der Kriegsund Nachkriegszeit in manchen Ländern gewisse Zwangsmieter es mit den Hausbesitzern und Mitbewohnern nicht viel besser getrieben haben.

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KatalognummerBW-AK-013-2908