Original

7. Mai 1925

Blüten lesen ist ein gangbarer Ausdruck, aber eigentlich ein Unsinn. Nicht die Blüten, sondern die Früchte werden gelesen, es sei denn, daß es sich um Hollunder, Camillen und Linden handle, deren Blüten zu Teezwecken eingesammelt werden.

Die richtige Blütenlese wird denn auch nicht in Garten und Feld, sondern im Reich der Druckerschwärze gehalten. Also lesen wir heute einige Blüten, die sich durch Absonderlichkeit oder abnorme Verbreitung auszeichnen.

In einem gelehrten Werk eines verstorbenen Luxemburgers - der Name tut nichts zur Sache - steht der Satz: „Frankfurt, die Stadt, wo Goethe geboren und Schopenhauer gelebt.“

Hier hat also jemand von der poetischen Lizenz Gebrauch gemacht und das Hilfszeitwort ausgelassen. Aber welches? Ist Schopenhauer ausschlaggebend, so ist zu ergänzen „hat“. Demnach würde der Satz ohne poetische Lizenz lauten: „Frankfurt, die Stadt, wo Goethe geboren hat und Schopenhauer gelebt hat.“ Goethe war ein Genie, aber bis zu der gattungerhaltenden Betätigung, die ihm hier zugemutet wird, hat er es doch wohl nie gebracht.

Will man umgekehrt „ist“ ergänzen, so kommt wiederum Schopenhauer zu kurz. Also das Sicherste und Sauberste wird sein, man eliminiert überhaupt nicht in Prosa, schon weil man es da nicht tun muß, um mit Versfuß und Reim übereinander zu kommen. Poetische Anflüge in Prosa wirken schwerfällig und prätentiös, wie das Fliegen eines Huhnes.

Kürzlich berichteten die Zeitungen über die Bildung eines neuen Vereins in einem Landstädtchen: „Die Mitglieder setzen sich zusammen aus Kaufleuten, Beamten, Handwerkern, Rentnern, Herren und Damen.“

Daß sich ein Verein aus diesen menschlichen Ingredienzien zusammensetzt, kann man verstehen. Aber daß jedes einzelne Mitglied sich aus einem Kaufmann, einem Beamten, einem Handwerker, einem Rentner, einem Herrn und einer Dame zusammensetzen soll, ist durchaus unglaubhaft. Und doch behauptet das jener Berichterstatter, wenn er uns schildert, wie sich die Mitglieder zusammensetzen. Hätte er geschrieben: Die Mitglieder setzen sich zusammen aus Kopf, Brust, Bauch, Rücken, Armen, Beinen usw., so wäre er nie in diese Blütenlese gekommen. Aber daß man sich auf seine Versicherung hin ein menschliches Individuum vorstellen soll, das aus zwei Geschlechtern und den Angehörigen von vier Berufen sich zusammensetzt - nein, da gehen wir nicht mehr mit.

In einer andern Meldung versucht jemand uns ein „insgesamt drei Hektar großes Haus nebst Scheune, Stallungen, Garten und Wiesen usw.“ vorzuspiegeln. Damit wäre im Handumdrehen der Wohnungsnot abgeholfen. Gesetzt das Haus hätte drei Stockwerke und ein Mansardengeschoß: wer rechnet aus, wieviel Familien zu durchschnittlich 4-8 Personen es beherbergen kann?

Zum Schluß einige Zöpfe, die in jeder Nummer jedes luxemburgischen Blattes zu baumeln pflegen:

„Die Sache erhält ein gerichtliches Nachspiel.“ Wer hat nur den bequemen Satz erfunden? Sicher sind seine Gebeine schon längst vermodert. Durch ganze Geschlechterreihen haben Zeitungsreporter ihre Prosa mit dem gerichtlichen Nachspiel geschmückt, es ist unausbleiblich, unvermeidlich, unentbehrlich, wie der violettseidene Taschentuchzipsel in der Sonntagsrockbrusttasche eines jungen Bauern von Merl.

Und warum steht immer in den Zeitungen, ein Fahrrad sei zum Nachteil des Nikolas Capesius entwendet worden, da es doch so einfach wäre, zu schreiben, es sei „ihm“ gestohlen worden, und man sich überdies nicht vorstellen kann, wie ein Fahrrad zum Vorteil des Nikolas Capesius oder jedes andern Nikolas entwendet werden könnte.

Und dann sollten wir endlich mit der „wohlachtbaren Dame Witwe Wurzinger“ aufräumen. Wir sagen doch auch nicht „der wohlachtbare Herr Witwer Dollinger“, sondern schlankweg Herr Dollinger. Das Femininum von Herr ist nicht Dame, sondern Frau. Also ist Frau Wurzinger der höchste Ehrentitel, der ihr gebührt. Wenn die Muttergottes „Unsre liebe Frau“ genannt wird, sollte es Frau Wurzinger schon aus religiösen Empfinden verschmähen, sich Dame titulieren zu lassen, obendrein mit der Bescheinigung, daß sie wohlachtbar ist, also keine silbernen Löffel gestohlen hat.

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    Katalognummer BW-AK-013-2909