Original

12. Mai 1925

Stumm ist der Mann, dem die Gabe der Rede versagt ist.

Es gibt ganz Stumme, halb Stumme, viertels, achteles, sechzehntel Stumme. Es gibt für die Unfähigkeit zu reden Prozentsätze, wie in d. Unfallversicherung für die Arbeitsunfähigkeit. Du selbst, lieber Leser, bist vielleicht stummer, als Du glaubst. Erinnerst Du Dich nicht, in einem Wortgefecht mit Deiner Frau - wenn Du verheiratet bist - oder sonst einer Dame Deiner Bekanntschaft unterlegen zu sein! Nicht weil es Dir an Gedanken und Argumenten, sondern weil es Dir an Worten fehlte, die dem schwächeren Geschlecht immer reichlicher, als uns, zu Gebot stehen.

Waffen des Worts müssen zur Hand liegen. Für Waffen des Worts gibt es Arsenale. Und wer seine sprachliche Wehr für alle Fälle instand halten will, tut sich in diesen Arsenalen gelegentlich um.

Eines davon heißt:

Borchardt-Wustmann, Die sprichwörtlichen Redensarten im deutschen Volksmund, nach Sinn und Ursprung erläutert. Vollständig neu bearbeitet von Dr. Georg Schoppe. Mit 35 Abbildungen. Ganzleinenband Mk. 12.50. Bei F. A. Brockhaus, Leipzig.

Wenn Du den Borchard-Wustmann, der in Deutschland ein landbekanntes Gegenstück zu Büchmanns Geflügelten Worten ist, auswendig könntest, so wärest Du in der Lage, Deine Frau und jede andere Dame Deiner Bekanntschaft in Grund und Boden zu reden, zu überrennen, einzustampfen. Denn Du hättest für jeden Gedanken und jede Nüance von Gedanken und jede Situation sofort das Wort auf der Zunge, das einschlägt. Du träfest nicht nur den Nagel auf den Kopf, sondern Du wüßtest auch, daß diese Redensart nicht bedeutet, einen gewöhnlichen Nagel mit dem Hammer auf den Kopf treffen, sondern daß sie aus der Schützensprache herübergeholt ist, wo damit ausgedrückt wird, daß einer genau die Mitte der Scheibe, die durch einen Bolzen oder Holznagel mit dickem Kopf bezeichnet ist, getroffen hat.

Solcherlei Kenntnis, so viel auf 518 Seiten geht, vermittelt Dir der neue Borchardt-Wustmann. Er ist ein köstlicher Weggenosse nicht nur in einer Redaktionsstube, wo sie alles wissen müssen, sondern für jeden, der in der Sprache ein Mittel sieht, sich ins Leben zu ergießen und sich möglichst viel von der Welt zu eigen zu machen.

Aber etwas weiß auch der Borchardt-Wustmann nicht: Wo das Hornberger Schießen in der bekannten Redensart herkommt. Wir lesen darüber: „Die Redensart wird gewöhnlich aus einer erfunden klingenden Geschichte erklärt und auf Hornberg in Baden bezogen.“ Wissen die Hornberger denn nicht, wann und wo ihr berühmtes Schießen stattgefunden hat? Wenn hier eine Redensart bestände, in der auf ein Luxemburger Schießen angespielt würde, so ruhten unsere Geschichtsforscher sicherlich nicht, bis sie das Ereignis nach Ort und Datum genau situiert hätten. Zwar wissen wir bis heute auch noch nicht, warum es im Volksmund heißt: „Er hat mit ihm geteilt, wie die Pießinger mit den Raben,“ aber auch dieser dunkle Punkt unserer Kulturgeschichte wird dereinst geklärt werden, und bis dahin wird dann auch der BorchardtWustmann seinen Lesern über das Hornberger Schießen klaren Wein einschenken können.

Einstweilen begrüßen wir die neue Ausgabe mit Freuden und werden in der nächsten Zeit unsere Rede verschwenderisch mit den Ausdrücken spicken, die wir aus ihr zu lernen uns vorgenommen haben.

TAGS
    Katalognummer BW-AK-013-2912