Original

13. Mai 1925

Achtlos, in der wohligen Passivität eines Mannes, der in der knospenden Pracht eines sonnigen Maivormittags empfangsfreudig die Stunde vor der Arbeit verschlendert, ging ich zwischen den Pilgern einher und ließ mich von dem lauen Wellenschlag des Lebens umspülen.

Da schlug mir ein breite, schwielige Hand auf die Schulter, und an meinem Ohr erscholl eine Männerstimme:

„Was, weißt du nicht, wie die Pießinger mit den „Kueben“ geteilt haben!“

Er war es, mein alter Schulkamerad aus Fingig dem ich alle paar Jahre einmal in der Stadt begegne, wobei wir uns dann jedesmal freuen, daß wir noch gesund sind und einer dem andern Komplimente über sein Aussehen macht.

„Ich dachte, du känntest doch längst die Geschiche von den Pießinger Raben!“

Zu meiner Beschämung mußte ich ihm gestehen, daß ich sie nicht kannte.

„Mir hat mein Vater die Geschichte hundertmal erzählt.“

„Wenn ich sie nur einmal hören könnte.“

„Abbeh ....“ (Alle guten alten braven luxemburger Geschichten müssen mit abbeh anfangen.)

„Abbeh da lauschter! Es waren einmal drei Pießinger „Jungen“, die gingen in den Wald spazieren. Da sahen sie auf einem Baum ein Rabennest. Da sagten sie: Wenn wir die Raben hätten! Da sagte der eine: Ich klettere hinauf und hole sie. Ja, sagten die andern, sie müssen nachher aber geteilt werden. Natürlich, richtig und ehrlich geteilt, sagte der erste.

Und da kletterte er auf den Baum und holte drei junge Raben aus dem Nest und rutschte damit wieder herunter.

Jetzt wird geteilt, sagten die zwei andern. Jeder bekommt seinen Teil.

Jawohl, sagte der erste, ich bin es zufrieden. Abbeh, den ersten nehme ich als Finderlohn, den zweiten nehme ich als Klimmerlohn, und der dritte gehört mir als mein Teil.

Dagegen konnten die zwei andern nichts Triftiges einwenden, und wenn sie den ersten nicht durchgehauen und ihm seine Beute abgenommen haben, so ist anzunehmen, daß sie leer nachhaus gegangen sind.

Seither ist der Spruch „Fannerlo’n, Klammerlo’n a meng Dehl“ in der Gegend gäng und gäbe. Und nun wissen wir auch, daß die bekannte Redensart nicht heißt: „En huet gedeelt, we’ d’Pießinger mat de Kueben,“ sondern: „we’ d’Pießinger d’Kueben.“

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    Katalognummer BW-AK-013-2913