Was die Nase für das Gesicht, das ist der Kirchturm für die Physiognomie des Dorfes. Wäre Walferdingen, wäre Körich, wäre Bartringen - wären alle Dörfer, was sie in der Seele ihrer Einwohner sind, wenn sie nicht den Kirchturm hätten, den sie grade haben? Denken Sie sich bitte an Stelle des Kirchturms von Liebfrauen in Luxemburg zum Beispiel den Turm der Benediktinerabtei von Clerf: Wäre das nicht, als ob Sie die Nase des Herrn Peter Prüm in das Gesicht des Herrn Emil Reuter verpflanzt hätten?
Jeder Dorfkirchturm ist das Wahrzeichen der Gegend. Es ist zu bedauern, daß unsere Kirchenbaumeister so wenig Phantasie entwickeln - wenn sie nicht zu viel entwickeln. Es gibt zu viele Kirchtürme, die sich gleichen. Zu viele, die wie scharf und schlank gespitzte Bleistifte in den Himmel stechen. Sie gleichen sich freilich nur für die Fremden. Wer im Schatten eines Kirchturms aufgewachsen ist, kennt an ihm alle Linien und Kanten, wie er die Falten im Gesicht seiner Mutter kennt. Aber es gibt Kirchtürme, die es Dir antun, auch wenn sie nicht dabei standen, während Du getauft wurdest. Es gibt Kirchtürme, in die man sich verliebt, wie in ein seltenes Stück einer Sammlung. So habe ich mich auf Wanderungen im Ösling, zwischen Maulusmühle und Heinerscheid in den Kirchturm von Hüpperdingen verliebt. Ich betrachte ihn als mein seelisches Eigentum, und wehe dem Vandalen, der in der Pfarrei etwa sammeln und erbschleichen ginge, um das Geld für eine neue Kirche und einen neuen Turm und einen neuen Gockel zusammenzuscharren und ein gotisches Scheusal von Kirche als Pendant zu dem himmelschreienden Scheusal von Pfarrhaus zu verbrechen.
Jetzt müßtet Ihr sehen, wie in der Frühlingsluft, die der Nordost eifersüchtig filtriert, daß sie glasklar ist, - wie in ihr die Kirchtürme klingend dastehen, jeder selbst wie ein sehnsüchtiger Glockenton über der Symphonie des Frühlings. Der eine ragt halb über den weit geschwungenen Rücken grünender Ackerbreiten, der andere steht empor aus dem unsäglich zarten, noch fast gelben Grün der krausen Horizontlinie, die über die Buchenwälder durch das zitternde Blau des Maihimmels läuft, oder ein anderer schießt aus dem Tal herauf wie eine Sehnsucht, über die flachen Dächer des Dorfes, das erdgebunden dem Turm zu Füßen liegt. Das sind die Antennen, die empfangen und senden, Wünsche, Erinnerungen, Ängste und Hoffnungen, um die herum die Seelen der Menschen kreisen, wie die Schwalben.
Und wenn der Turm zu klingen anfängt, dann ist es im Tempel Deiner Erinnerungen, wie wenn alle Kerzen zu brennen anfingen.
Singe mir o Muse das Lied von den Kirchtürmen der Heimat!