Original

20. Mai 1925

Die Bekanntschaft, die wir im Zug machten, gedieh in einer halben Stunde - was sage ich! in zehn Minuten zur Freundschaft und in weiteren fünf Minuten zur Verwandtschaft im dritten Grade. Indem er mich kurzerhand als Onkel behandelte. Er sang mir die Lieder vor, die ihn seine Mama gelehrt hatte, und weil grade die Zeit war, wo der Kuckuck zu rufen anfing, so stimmte er auch das Liedchen an: Auf einem Baum ein Kuckuck saß - Simsaladim Bambasala Dusala Dim. Die letzte Strophe: Und als ein Jahr vergangen war - kannte er noch nicht, und er war hoch erfreut, sie von mir zu hören. Er bat alle drei Minuten: Onkel, bitte, singe den Kuckuck: Und als ein Jahr vergangen war! Ich tat ihm den Willen. Er war zu herzig, man konnte ihm nichts abschlagen. Aber Bubi! mahnte die Mama. Du belästigst den Herrn. - Er ist doch kein Herr, er ist doch ein Onkel. Dagegen war nichts zu machen.

Bubi ging mit seiner Mama auf eine große Reise. Sie hatte vorgesorgt. Sie hatte in einem Carton nicht nur allerhand lecker geschmierte Brote, Schokolade, Himbeersaft, sondern auch seine liebsten Spielzeuge. Das waren die sonderbarsten Gegenstände. Die Kinderpsyche verhält sich zum Spielzeug so, daß die Erwachsenen die geheimen Beziehungen gar nicht verstehen. Ich kannte einen kleinen Jungen, der sich mit drei Jahren zu Weihnachten eine große Lattenkiste wünschte, die von einer Verpackung her im Garten stand, und der mit dieser Kiste die wunderbarsten Spiele spielte, Jahre lang, bis er anfing, „mit den Mädchen froh zu werden“.

Bubi kramte in dem Carton, das seine Mama offen neben ihm auf das Polster gestellt hatte. Er nahm nacheinander alle Gegenstände heraus und so wie er einen aus der Hand ließ, legte ihn seine Mama wieder in den Carton an die Stelle, wo er hingehörte. Sie sprach mit mir über ihre Reise. sie ließ sich von Bubis umstürzlerischem Gebaren nicht im mindesten aus ihrer Ruhe bringen, sie ordnete mit sanfter Hand alles, so schnell er es in Unordnung brachte, und sagte dazu kein Wort. Es war ein rührendes Wunder, wie sich die beiden in die Hände arbeiteten.

„Werden Sie nicht ungeduldig?“ frug ich sie.

„Ach nein,“ sagte sie. „Ich bin es mit ihm nicht besser gewohnt.“

Bubi Bubi, freue Dich, daß Du solche Mama hast, die mit sanften Händen richtet, was Du krumm machst. Und ich wünsche Dir und ihr, daß Du ihr nie etwas zu richten gibst, worüber sie trauriger werden könnte, als über die Unordnung in Euerm Neisecarton!

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KatalognummerBW-AK-013-2919